Es ist wieder mal volles Haus an diesem illustren Leseabend (Fr 10.3.) in der Bochumer Kultkneipe „Goldkante“. Und Moderator Ralph Köhnen von der Literarischen Gesellschaft Bochum hat sich auch nicht lumpen lassen und mit dem Wahl-Leipziger Autoren Martin Becker und Singer-Songwriter Tommy Finke ein infernalisch gut aufeinander abgestimmtes Künstler-Duo angeheuert.
Die Buchpremiere des gebürtigen Sauerländers mit familiären Wurzeln im Ruhrgebiet gerät somit zum Multikunst-Ereignis samt szenischer Lesung einer sehr passenden Romanpassage zusammen mit seinem musikalischen Partner: „Ich mag diese Samstage, ich mag diese Geschichten, ich mag die Art, wie mein Vater erzählt, ich bin sogar manchmal mit ihm unter Tage, in seinen Berichten zumindest, aber ich verstehe natürlich nicht, was er sagt, wenn er das Hangende erwähnt oder das Liegende, ich frage auch nicht nach, ich habe ja nur meine Musik im Kopf und will ganz nach oben damit, und was interessiert es mich da schon, wie es unten bei den Kohlen aussieht?“ Der Vater des Protagonisten berichtet jedoch an jenem Samstag nicht nur über seine Vergangenheit als Bergmann, sondern antizipiert zudem den eigenen Tod, als er einen Zeitungsartikel über einen der Monde des damals noch als Planeten geltenden Pluto wiedergibt. Dort wird erklärt, „woher der Mond Charon seinen Namen hat, und das lässt meinem Vater keine Ruhe mehr: dass es da, wenn man dran ist, also, wenn man an der Reihe ist, dass es dort diesen Fluss des Vergessens gibt, und dass da so eine grimmige Type sitzt, der man noch was bezahlen muss, damit sie einen in einem wackeligen Kahn über den Fluss bringt.“
Als Kollektivsymbol stehen Tod und Vergessen in Martin Beckers Roman „Marschmusik“ zugleich für den drohenden kulturellen Totalverlust, der mit dem nahenden Ende des Steinkohlebergbaus einhergeht. So kann die bevorstehende Schließung der Bottroper Zeche Prosper 2018, dem letzten Kohlenpütt in NRW, als Schlusspunkt einer (mentalitäts-)geschichtlichen Ära einer regionalen Kultur betrachtet werden, die mit der Industrialisierung des Ruhrgebiets Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Der Autor kann eine solche Deutung zumindest auf seiner persönlichen Erfahrungsebene nachvollziehen: „Diese wortkarge Welt der Väter und Großväter, diese harte Herzlichkeit der Bergleute, das ist sehr speziell und das wird es bald in der Tat nicht mehr geben.“
Doch die absehbare Perspektive eines solchen Verlusts kann einem Künstler auch einen Kreativitätsschub verleihen: „So ein Kulturverlust bewegt mich natürlich aus persönlichen Gründen. Und als Autor gab er mir den entscheidenden Schub, dieses Buch überhaupt zu schreiben – wie ein Anschreiben gegen das Vergessen, irgendwie.“ Und zumindest die erlebte Geschichte wird bleiben: „Verschwinden wird diese spezielle Abteilung des Arbeitermilieus. Bleiben wird der Mythos. Verschwinden werden die Männer mit Kohlenstaub im Gesicht. Bleiben werden die Geschichten, die sie erzählen. Verschwinden wird meine familiäre Vergangenheit. Bleiben werden die Erinnerungen, die ich so gerade noch rechtzeitig aufsammeln konnte.“
Was hoffentlich niemals verschwinden wird im Ruhrpott, ist die feine Lakonie, durch die zuweilen selbst der unter Tage latent präsente Tod in der bodenständigen ironischen Brechung seinen Schrecken verlieren mag. So lässt Martin Becker in der mit Tommy Finke gelesenen Szene seinen Protagonisten abschließend die Erinnerung an den Vater berichten, „wie er an einem Samstag am Ufer steht, wie er den Fährmann mit Zigaretten bezahlt anstatt mit einer Münze auf der Zunge, wie sie schweigend noch eine Zigarette rauchen, wie sie sich dann im übernächtigten Einverständnis zunicken, wie der Fährmann das Boot abstößt, wie er es über den schwarzen Fluss steuert und wie die Ruderschläge den schleppenden Rhythmus einer Küchenuhr imitieren, jetzt, jetzt, jetzt.“ Lange, lange, lange dauert es, bis der aufbrandende Schlussapplaus in der Goldkante irgendwann verstummt.
Martin Becker: Marschmusik | seit 13.3. im Handel | Luchterhand | 288 S. | 18 €
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