Anfang 2008 entfachte der Bestseller „Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden“ eine heftige Debatte. Der Autor Michael Winterhoff, ein Bonner Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, stellte ausgehend von seiner Praxiserfahrung folgende These auf: Die gegenwärtige Erziehung macht Kinder erst zu Partnern auf Augenhöhe, die notwendige, pädagogische Distanz geht verloren. Dadurch geraten die Kinder in ein symbiotisches Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Eltern und werden zu respektlosen, unselbstständigen und gesellschaftsuntauglichen Jugendlichen und Erwachsenen. Anfang 2016 veröffentlichte die Wiener Psychologin Martina Leibovici-Mühlenbach mit „Wenn Tyrannen-Kinder erwachsen werden“ die inoffizielle Fortsetzung von Winterhoffs Buch. Die Huffington Post titelte Mitte 2016 salopper „7 Erziehungsfehler, die zu Arschlochkindern und Tyrannen führen“. Laufen wir wirklich Gefahr, dass künftige Generationen respekt- und vor allem empathielos wie kleine Hannibal Lecters durch die Pekip-Gruppen der Republik krabbeln?
Empathie ist eine Fähigkeit, die wie das Konzept der Theory of Mind angeboren ist. Während Theory of Mind oder auch „Alltagspsychologie“ dafür verantwortlich ist, dass Menschen kognitive Prozesse anderer Menschen nachvollziehen können, meint Empathie, sich einfühlen zu können in die Emotionen anderer. Beide Konzepte sind im biologischen Grundbauplan des Menschen angelegt und bilden Fähigkeiten heraus, die zum Funktionieren unserer Gesellschaft unerlässlich sind. Könnten wir uns nicht in andere Menschen hinein versetzen und zumindest erahnen, was sie denken, warum sie wie handeln und was sie traurig macht oder verärgert, die Welt wäre längst im Chaos versunken.
Krankheitsbedingte Abweichungen oder Störungen, zum Beispiel verursacht durch Autismus, Schizophrenie oder aber schwere Traumata oder Vernachlässigung in der Kindheit kommen vor. Allgemein entwickelt sich empathisches Vermögen aber zunächst von ganz alleine als Folge der Entwicklung des Gehirns, wo innerhalb des ersten Lebensjahres ein neurologisches Feuerwerk synaptischer Verschaltungen stattfindet. Ungefähr ab einem Alter von zwei Jahren sind Ansätze empathischen Verhaltens erkennbar.
Mit moralischem Handeln verhält es sich etwas anders. Was gut und böse ist, müssen Kinder erst lernen, da diese Kategorien gesellschaftlichem Wandel unterliegen. Alles Empathievermögen hat schließlich nicht verhindert, dass Menschen einander schon immer versklavt, ausgebeutet und gemordet haben. Früher setzte man in der Erziehung auf moralische Geschichten wie Märchen, wo falsches Handeln teils drakonisch bestraft wurde. Wer sich als Erwachsener mal die Märchensammlung der Gebrüder Grimm zur Hand genommen hat, dürfte erschrocken sein, wie brutal manche Passagen sind. Da werden Hände abgehackt, Jungfrauen vergewaltigt und zerstückelt, neugierige Kinder in Holzklötze verwandelt und verbrannt, Morde befohlen, Hexen in Öfen gestoßen, Menschen gegessen. Über die Grausamkeit und den pädagogischen Nutzen solcher Märchen wurde schon zu Lebzeiten der Grimms, zugleich auch die Hochzeit der „Schwarzen Pädagogik“, die sich durch Gewalt und Einschüchterung auszeichnete, diskutiert. Heute scheint es schwer vorstellbar, dass Kinder durch solche Negativbeispiele zu sozialen Wesen gedeihen, so spannend sie auch sein mögen. Als pädagogisch wertvolle Kindergeschichten gelten mittlerweile solche, die sozial gewolltes Verhalten wie Hilfsbereitschaft, Mitgefühl oder Großzügigkeit belohnen, statt ungewolltes zu bestrafen.
Das entbehrt nicht einer gewissen Schizophrenie. Denn während Paula im Kinderbuch erst dann glücklich sein kann, wenn sie die Schokolade mit ihrem Bruder teilt, werden Kinder bei uns in ein immer ungerechter werdendes Konkurrenzsystem hinein geboren, das Ellenbogen-Mentalität fördert und Leistungsdruck schon in der KITA erzeugt. Von der Ausbeutung anderer Menschen weltweit zur Aufrechterhaltung unseres Wohlstands ganz zu schweigen. Empathie liegt uns also sozusagen im Blut, sie ist evolutionsgeschichtlich eine sinnvolle Eigenschaft und dürfte uns vorerst erhalten bleiben. Aber irgendwann kommen Kinder auch in Kontakt mit der gar nicht mal so moralischen Welt der Erwachsenen. In deren Hand liegt es auch, Kindern diesen Widerspruch zu vermitteln, was dann auch wieder eine Sache der Erziehung ist.
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