trailer: Herr Dörner, was halten Sie vom Bundesfreiwilligendienst?
Klaus Dörner: Er ist ein Schritt in die richtige Richtung. Er unterstützt den Trend, dass sich Bürger egal welchen Alters für andere Menschen engagieren. Es ist gut, diesen Trend in dieser Form zu nutzen.
Reichen denn die gut 30.000 Stellen für die Aufgaben im sozialen Bereich?
Es ist verständlich, dass zunächst klein angefangen wird. Kein Mensch wusste, wie die Bürger darauf reagieren. Viele ehrenamtlich Tätige, die sich in Nachbarschafts- oder Bürgervereinen engagieren, lassen sich ungern an staatliche Strukturen binden.
In Ihrem neuen Buch geht es eher um die grundsätzliche Frage, warum Menschen Menschen helfen.
Tatsächlich wollen fast alle Bürger nicht mehr in Pflegeheimen, sondern in ihren eigenen Wohnungen leben und sterben. Das funktioniert aber nur, wenn sich Menschen im jeweiligen Stadtteil für die alten Menschen engagieren. Ich betreibe seit etwa 15 Jahren soziale Feldforschung, gehe dorthin, wo Bürger etwas bewegen und komme aus dem Staunen nicht mehr raus, in welchem Umfang und mit welch originellen Ideen dies geschieht.
Aber es heißt doch, dass wir alle nur noch neoliberal sind?
Der reale Trend, anderen zu helfen, ist bei den Medien noch nicht angekommen. Ich glaube, dass die Vertreter der Medien noch Denkstrukturen der alten, vergehenden Industriegesellschaft benutzen. Die Begriffe der Industriegesellschaft haben wir gelernt. Wir glauben zu wissen, dass alle nur noch Ellenbogen-bewehrte Monster sind. Aber wir befinden uns in einem Epochenwandel. Die 150-jährige Geschichte der Industriegesellschaft geht zu Ende.
Was folgt dem?
Den Namen der nun beginnenden Epoche kennen wir noch nicht. Industriearbeitsplätze werden wegen zunehmender Automatisierung in großer Zahl wegfallen. Will man keine Massenarbeitslosigkeit, müssen neue Arbeitsmöglichkeiten geschaffen werden. Gearbeitet wird nicht mehr, um Sachen zu bearbeiten. Gearbeitet wird wieder mit Menschen. Es werden nicht mehr die Fast-Worker belohnt werden. Wenn wir mit Menschen arbeiten, geht es nicht mehr um das schnelle, sondern um das langsame Arbeiten.
Das klingt zunächst utopisch.
In Geesthacht bei Hamburg gibt es ein Projekt. Man hat erkannt, dass Industriearbeit für psychisch kranke Menschen ein Auslaufmodell ist, im Dienstleistungsbereich aber viele Aufgaben warten. Junge psychisch kranke Menschen gehen zu alten Menschen in deren Wohnung. Der Pflegedienst, der für die körperliche Versorgung zuständig ist, geht nach fünf Minuten wieder weg. Die psychisch Kranken aber bleiben. Die haben Zeit, Zeit für ein Gespräch, für einen Spaziergang oder einfach nur Zeit, um da zu sein. Und alte Menschen benötigen diese langsam arbeitenden Menschen mindestens genauso sehr wie die schnell arbeitenden Pflegetechniker.
Und da gibt es einen steigenden Bedarf?
Natürlich, durch den medizinischen Fortschritt sterben immer weniger Menschen an akuten Krankheiten. Dadurch gibt es immer mehr chronisch kranke Menschen, die nicht nur medizinisch und pflegerisch, sondern auch menschlich betreut werden müssen.
Der Bufdi bekommt gut 300 Euro Taschengeld. Jedem Gewerkschaftler sträuben sich bei solchen Summen die Nackenhaare. Wie ist eine gerechte Entlohnung möglich?
Das Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit hat sich in den letzten hundert Jahren stark verändert. Die Arbeitszeit hat sich halbiert, die Freizeit verdoppelt. Aber kein Mensch hält letztlich 24 Stunden am Tag Freizeit aus. Deshalb verwenden viele Bürger zunehmend einen Teil ihrer gewachsenen Freizeit als soziale Zeit, um nicht an zu viel Freizeit zu ersticken. Wer für andere Menschen da ist, kann seine freie Zeit besser genießen. Eine engagierte Frau sagte mir mal: „Jeder Mensch braucht seine Tagesdosis an Bedeutung für andere.“
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