Besonders für diesen Tag galt es: In Dortmund wüteten die Widersprüche. Draußen schlich sich eine herbstliche Stimmung in den Spätsommer ein, auf den Straßen drängte ein Nazi-Mob auf den Christopher-Street-Day zu und versuchte, ein neues Kulturzentrum anzugreifen. Drinnen, im gemütlichen Roxy-Kino in der Nordstadt, hatte sich die Slam-Zunft versammelt – ein Szenario, das an Platons Höhlengleichnis erinnerte.
Der Slam-Gast aus München, Müsli, brachte dann unangenehmes Tageslicht in den dunklen und gut gefüllten Dortmunder Kinosaal und bewies, dass sein Künstlername Programm ist. Denn sein Slam-Beitrag war alles andere als Fast-Food: Nicht nur dass er seinen Beitrag mit einem Hinweis auf den Naziaufmarsch während des CSD anmoderierte, sein Slam-Text „Kinder“ verschrieb sich auch dem NS-Thema. Mit onomatopoetischen Einschüben wurde das Szenario eröffnet, das Ticken der Uhr illustrierte einen nervösen Duktus: „Tick, tack, tick“. Gemeinplätze wurden berührt. Etwa, dass es den Kiddies damals nicht dolle ging: „Keine Rechte außer Kugeln.“ Oder, wie er die Verhältnisse an anderer Stelle anprangerte: „Hitler war es doch egal, was mit uns geschah.“
Nazis, Polizisten und andere Hinterwäldler
Auch in Platons Höhlengleichnis steht am Ende das erlangte Wissen. Das brachte auch Müsli. Seine Verse schrien letztendlich die Erkenntnis des Abends in den dunklen Kinosaal: „Hitler, Hitler ist es gewesen!“ Denn Dortmund ist nicht nur die „Herzkammer der Sozialdemokratie“ (wie Moderator Björn Rosenbaum wegen des roten Eddings, mit dem er die Stimmen auf dem Flipchart notierte, bemerkte), sondern polarisiert auch mit einer starken Neonazi-Szene. So kann gerade hier der berühmteste aller Nazis als beliebte Referenz herhalten.
So auch in Tuna Tourettes Finaltext, eine Slam-Performance, die ein (mentales) Aufbautraining persiflierte: Vom Nichts zum Mann. Witzig wird das Jammertal entfaltet, eine sexuelle Durststrecke. Äquivalent ist natürlich auch hier Hitler, aber dem angesprochenen Slam-Du ergeht es noch schlimmer: „Hitler hatte wenigstens jemanden, der sich mit ihm umgebracht hat – Du hast niemanden.“
Der Ausweg ist ein Happyend, wie Tuna Tourette den Gipfel seines Aufbautrainings-Klamauks ironisch entfaltete: „Stell dich auf die Bühne und erzähle sechs Minuten absoluten Blödsinn.“
Aber Nazis fungierten da nur allegorisch. Es ging darum, dem Bösen zu entrinnen. Das gelang Stefan Fischer, der sein Slam-Comeback gab, nur bedingt: Sein lyrisches Ich verschlägt es wegen einer Hochzeitsfeier in die dörfliche Heimat, dort wo „Titten, Ausländer und Jägermeister“ die Fixpunkte der geselligen Runden sind. Vom eigenen Bösen erfährt er dann nach einem Filmriss erst in einem Brief.
„Der Fette aus Hangover“: Die Krone für Björn Gögge
Christoph Koitka schüttelte das Böse nur ironisch ab, denn sein Text „Helden“ hat zunächst nur den Polizisten zu bieten – das „Kindermädchen für Nazidemos“. Eigentlich eine armselige Gestalt, denn: „Ein Polizist ist ein Typ, der nachts an fremden Türen klopfen muss, während andere Spaß haben.“ Die Running-Gags des Abend bezogen sich zum einen auf Björn Gögges „Talibanbart“ (Moderator Björn Rosenbaum) eine Bartmode, wie er selbst scherzte, „wie beim Fetten aus Hangover“. Für die anderen kleinen Lacher sorgte Kronen, das Bier das den Abend sponsorte, die Stadt Dortmund erst aufbaute und Moderator Björn Rosenbaum besoffen machte. Stimmigerweise war es auch eine Krone, die den Sieger Björn Gögge zierte, der das Publikum mit seiner Slam-Performance über seinen ganz persönlichen „Arschlochtag“ überzeugte.
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