
In die Sonne schauen
Deutschland 2025, Laufzeit: 159 Min., FSK 16
Regie: Mascha Schilinski
Darsteller: Hanna Heckt, Lena Urzendowsky, Laeni Geiseler
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Berauschendes, visionäres Epos
Geist unter Geistern
„In die Sonne schauen“ von Mascha Schilinski
Am Anfang: ein Vierseitenhof in der Altmark. Nach der Premiere ihres Spielfilmdebüts „Die Tochter“ auf der Berlinale 2017 sucht Regisseurin Mascha Schilinski hier, in dem alten Gemäuer, Inspiration für die nächsten Drehbücher, ihren nächsten Film. An ihrer Seite: Co-Autorin Louise Peter, einen Sommer lang. Ein Foto aus den 1920ern, ein Schnappschuss mit drei Frauen aus dem Hofalltag, Blicke in die Kamera. Die grundsätzliche Neugier: Wer hat hier gewohnt? Was ging und geht in diesen Menschen vor? Vor 110 Jahren, vor 90 Jahren, in den 1980ern, heute. Was verbindet sie miteinander? Bewusst. Unbewusst. Die beiden Autorinnen recherchieren zu generationsübergreifenden Phänomenen: Ein Kind träumt von Kindheitserlebnissen des Vaters. Körpergedächtnis. Körpertrauma. Der Fokus richtet sich rasch auf den weiblichen Blick. Bilder entstehen. Sequenzen. Momente. Atmosphäre. Zugleich widerstrebt der anekdotische Ideenpool einer stringenten Handlung. „Irgendwann“, erinnert sich Mascha Schilinski im Interview, „passierte dann etwas Wunderbares“. Das Autorinnengespann einigt sich darauf, „dem Prozess zu vertrauen“: die freie Montage, ohne künstliches Handlungsgerüst. „Nur Szenen, die wir wirklich sehen wollten. Das war befreiend.“ Das Gerüst entsteht später im Kino, vor der Leinwand. Im Kopf, oder vielmehr: im Bauch, im Herzen der Kinobesucher:innen. Die Protagonistinnen und die Zuschauer:innen sind gleichermaßen Suchende. 34 Tage standen dem Filmteam für den Dreh zur Verfügung, bei knappem Budget. Mit gestandenen Darsteller:innen (Lena Urzendowsky, Susanne Wuest, Luise Heyer), mit Laien aus der Region. Haupthandlungsort ist der Hof, auf dem das Drehbuch entstanden ist. Am Ende: eine filmische Offenbarung.
Freihändig und assoziativ begleitet das Drama das junge Leben seiner vier Figuren Alma (1910er-Jahre), Erika (1940er), Angelika (1980er) und Nelly (2020er). Ihr akutes Erleben, der kindliche Blick auf den Alltag in Spiel und Tagewerk, im Beiwohnen von Gewalt und Tod, von Glück, Trauer und Erwachen, von Verirrung und Sehnsucht: „Zu dumm, dass man nie weiß, wenn man am glücklichsten ist“. Jedes Mädchen ist ihrem Dasein ausgesetzt – und zugleich dem Erbe der Ahnen. Dabei hinterlässt jedes Mädchen ihrerseits ein Erbe. Geistiges Erbe. Geist. Ein Foto. Erinnerung an Geschehnisse, die man nie erlebt hat. Dinge, die wieder passieren. Davor. Danach. Scheunenparty, Gartenfest. Einsamkeit, sexuelles Erwachen, Todessehnsucht. Ein Drama wie ein Rausch, es zieht uns mit, vor, zurück und wieder vor. Zu Alma, zu Erika, zu Angelika und Nelly. Und immer wieder: der Blick der Mädchen und Frauen in die Kamera. Meist wirkt ihr Blick traurig dabei, verloren, und jedes Mal trifft er ins Herz. In anderen Filmen entrückt uns der Blick in die Kamera der Illusion. Weil er die vierte Wand durchbricht. Hier ist das Gegenteil der Fall. „Ich hatte das Gefühl“, sagt Schilinski, „dass es plötzlich diesen Blick von außen gibt und die Figuren ihn auf einmal selbst spüren.“ Hier also verstärkt der Blick in die Kamera die Illusion. Die Kamera spielt mit. Spielt Verstecken, dreht unscharf, sucht den Schwenk ins Schwarz, ist selbst Geist unter Geistern. Der Sound knistert, lodert, brodelt, rauscht, vereinzelt Synthiewellen. Gänsehautmomente in magisch verwobenen Momentaufnahmen. Schilinski entfacht einen 149 Minuten währenden audiovisuellen Sog, mal zärtlich, mal grausam und immerzu sinnlich.
Oberflächlich betrachtet erinnert die Inszenierung, die Gestaltung von Bild und Ton an Terrence Malicks spirituelles Spätwerk der 2010er Jahre, von „The Tree of Life“ bis „Song to Song“. Schilinski aber inszeniert zurückhaltender, hier bewegt sich die Kamera weniger aufdringlich an den Akteuren als bei Malick. Zugleich ist sie ungleich näher dran: hält Blickkontakt. Mit ihrem erzählerischen Konzept als Rahmen, gefüllt mit Momentaufnahmen und Bezügen, reißt Schilinski originär filmische Erzählkonventionen auf, ist offener, freier, fordert – und ist genau dadurch so einzigartig mitreißend. Auf die Frage nach ihrer Vision für das Kino in Zukunft sagt die Filmemacherin: „Da ist noch so viel zu erkunden und zu entdecken.“ Schilinski ist eine Entdeckerin.
Cannes 2025: Preis der Jury: Mascha Schilinski
(Hartmut Ernst)

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