In letzter Zeit ist wieder viel von Gier die Rede. Beispielsweise im Neologismus „Gierflation“, wonach die Gier von Konzernen nach Extragewinnen angesichts von derzeitigen multiplen Krisen (Corona, Klima, Ukraine) zum rasanten Anstieg der Verbraucherpreise geführt habe; ob und wie der neuerliche Krieg in Nahost zu Preissteigerungen führen wird, muss sich erst noch zeigen. Gier, so die stumpfsinnige Erklärung, liege halt in der Natur des Menschen, und der Kapitalismus sei die Wirtschaftsform, die dieser Grundeigenschaft des Menschen entspreche. Sozialismus und Kommunismus hingegen seien zum Scheitern verdammt, weil sie angeblich die überhistorisch-egoistische Natur des Menschen missachteten.
Rationale Egoisten
Niederschlag in der Wirtschaftswissenschaft erlangt die angebliche Menschennatur im Modell des „homo oeconomicus“, des wirtschaftenden Menschen. Der Theorie nach soll er ein seinen eigenen Nutzen maximierender rationaler Akteur im Feld der Ökonomie sein. Laut dem englischen Philosophen John Stuart Mill (1806-1873), der den Vorläuferbegriff „oeconomic man“ mit geprägt hat, ist der Mensch jenes Wesen, das „Reichtum zu besitzen wünscht und in der Lage ist, die vergleichende Wirksamkeit der Mittel zur Erreichung dieses Ziels zu beurteilen“. Kurz gesagt: Ein Unternehmer will den Profit seiner Unternehmung maximieren, während der Konsument gerne das Verhältnis von Arbeit (möglichst wenig) und Einkommen (möglichst viel) optimieren möchte. Die dahintersteckende Denkweise ist jedoch zutiefst ideologisch, kommt sie doch nur einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse zu Gute: dem Bürgertum bzw. der Bourgeoisie. Der Bürger denkt, rein individualistisch und fernab sozialer Notwendigkeiten, nur an sich selbst.
Es geht um Macht
Historisch gesehen, und gemessen an der Menschheitsgeschichte, ist das Bürgertum als die denKapitalismus tragende gesellschaftliche Klasse recht jung. Und sie ist weder vom Himmel gefallen, noch aus der Natur erwachsen, sondern Resultat historischer und somit menschlicher und keineswegs alternativloser Entwicklungen. Als gesellschaftliche Klasse, betritt die Bourgeoisie erst im 18. Jahrhundert wirkmächtig die Bühne der Weltgeschichte. Seither ist sie diejenige Klasse in einer kapitalistischen Gesellschaft, in deren Händen der Privatbesitz an den Produktionsmitteln (und somit der materielle Reichtum) liegt, und die von der Aneignung des von Lohnarbeitern geschaffenen Mehrwerts lebt. Vermittelt über Kapitalverbände, persönliche Netzwerke, Parteispenden, Lobbyismus sowie ihren Einfluss auf die Massenmedien fällt ihr auch ein Großteil der politischen Macht zu. Den Kapitalismus daher ausschließlich als Wirtschaftssystem zu begreifen, springt zu kurz, ist er doch vor allem ein Machtverhältnis, in dem die große Mehrheit, die nichts als ihre Arbeitskraft zu verkaufen hat, nach der Pfeife der Produktionsmittelbesitzer tanzen muss.
Schwerkraft bekämpfen
Homogen sind die Interessen der einzelnen Bourgeois jedoch nicht. Im Gegenteil ist die Klasse in sich zutiefst gespalten. Ihr einziges gemeinsames Interesse ist negativer Art: den Sturz ihrer Macht und ihrer Eigentumsordnung unter allen Umständen zu verhindern. Damit das gelingt, muss die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung als etwas naturwüchsig Überhistorisches erscheinen, gegen das anzukämpfen so sinnlos ist wie sich gegen die Auswirkungen der Schwerkraft zu stemmen.
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