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Zeche Victoria Mathias mit RWE-Kraftwerk, Essen-Segeroth, 1951
Foto: Albert Lenz/Stadtbildstelle Essen

Eine zerfressene Landschaft im Schuber

12. September 2011

Das „Historische Lesebuch Ruhrgebiet“ von Klaus Tenfelde und Thomas Urban – RuhrLit 09/11

Bei Büchern, die mehr als tausend Seiten Lesestoff besitzen, fängt man am besten hinten an. Das gilt natürlich nur für Sachbücher, nicht für Romane oder Mehrbänder wie Harry Potter. Im historischen Lesebuch von Klaus Tenfelde und Thomas Urban ist es unumgänglich. Der Doppelband im Schuber heißt schlichtweg „Das Ruhrgebiet“ (2010) und es ist für alle Bewohner der Region ein Schmöker, für Kohlenstaubferne eine Nachschlagewerk mit Orientierungshilfe, für Eingewanderte eine Verortungshilfe und für Außerirdische könnte es in Zukunft der Plan zum Überleben werden. Denn Blindschächte sind nix für Amateure, Gezähe kann man nicht essen und eine Seilfahrt ist nicht immer lustig. Das Bergbau-Glossar am Ende der Bände enthält Begriffe, die man kennen sollte, will man die Historie dieser von roher industrieller Gewalt zerfressenen Kulturlandschaft wenigstens ansatzweise begreifen. Denn diese drittgrößte Städteballung Europas entstand erst mit der Montanindustrie, vorher wanderten hier Hirten umher, fanden zwar die ersten Kohlebrocken, aber in der Hauptsache eher Bucheckern und Eicheln. In den zwei dicken Bänden sind die Geschichten jetzt für die Ewigkeit bewahrt, in 18 Kapiteln fast ausschließlich anhand von Quellen konserviert und enden mit dem Aufbruch in eine neue Zeitrechnung, wo Kohle und Stahl passé sind, Dienstleistung und Kultur die neuen Kälber sein müssen, um die Bewohner bei Laune zu halten, obwohl Schmutz und soziales Elend weitgehend exportiert wurde. Erschienen sind die zwei Bücher im Schuber im Essener Klartext Verlag.

Machen wir also einen Versuch. Augen zu. Band eins ertasten, beide Daumen als Werkzeug, blind aufschlagen. Seite 191 hat es geschafft. Ein Schreiben aus dem Jahre 1850 von Adolf Pilgrim an die Königliche Regierung zu Arnsberg (kein Jux) ist dort abgedruckt: „Viel Geschrei und wenig Wolle“ heißt es. Der Landrat des Kreises Dortmund beurteilt darin die vermuteten Vorkommen an Kohleneisenstein mit Skepsis. Blättert man ein paar Seiten weiter, findet man den Prospectus zur Errichtung einer Actien-Gesellschaft unter der Benennung „Hörder Bergwerks- und Hütten-Verein“ vom März 1852. Die Skepsis hat also nicht lange vorgehalten. Noch ein paar Seiten (Seite 215) weiter eine sehr interessante Warnung über die „Quelle von Elend und Verderben“. Das Oberbergamt warnt damit 1866 vor der Abwerbung preußischer Bergleute für türkische Bergwerke in Bosnien. Dort sei eben nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Seelenheil extrem gefährdet. Ein Jahr später kommt die heimatliche Region dann zu ihrem Namen „Ruhrgebiet“. Zum ersten Mal gebraucht wurde der Begriff von Nicolaus Hocker in: „Die Großindustrie Rheinlands und Westfalens“ (Leipzig 1867) und damit fing die Metropole, die bis heute keine ist, an zu wachsen. Wer wirklich wissen will, wieso und warum, für den haben mit Klaus Tenfelde und Thomas Urban zwei absolute Experten dieses Opus des Ruhrgebiets geschaffen. Es füllt nicht nur die neuronale Festplatte, sieht auch schick im Bücherschrank aus, sollte also in keinem Haushalt fehlen.

Klaus Tenfelde/Thomas Urban (Hg.): Das Ruhrgebiet – Ein historisches Lesebuch | Klartext-Verlag, Essen | ISBN: 978-3-8375-0286-2 | 2 Bände im Schuber, ca. 1100 Seiten; 44 Euro

PETER ORTMANN

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