Bei Büchern, die mehr als tausend Seiten Lesestoff besitzen, fängt man am besten hinten an. Das gilt natürlich nur für Sachbücher, nicht für Romane oder Mehrbänder wie Harry Potter. Im historischen Lesebuch von Klaus Tenfelde und Thomas Urban ist es unumgänglich. Der Doppelband im Schuber heißt schlichtweg „Das Ruhrgebiet“ (2010) und es ist für alle Bewohner der Region ein Schmöker, für Kohlenstaubferne eine Nachschlagewerk mit Orientierungshilfe, für Eingewanderte eine Verortungshilfe und für Außerirdische könnte es in Zukunft der Plan zum Überleben werden. Denn Blindschächte sind nix für Amateure, Gezähe kann man nicht essen und eine Seilfahrt ist nicht immer lustig. Das Bergbau-Glossar am Ende der Bände enthält Begriffe, die man kennen sollte, will man die Historie dieser von roher industrieller Gewalt zerfressenen Kulturlandschaft wenigstens ansatzweise begreifen. Denn diese drittgrößte Städteballung Europas entstand erst mit der Montanindustrie, vorher wanderten hier Hirten umher, fanden zwar die ersten Kohlebrocken, aber in der Hauptsache eher Bucheckern und Eicheln. In den zwei dicken Bänden sind die Geschichten jetzt für die Ewigkeit bewahrt, in 18 Kapiteln fast ausschließlich anhand von Quellen konserviert und enden mit dem Aufbruch in eine neue Zeitrechnung, wo Kohle und Stahl passé sind, Dienstleistung und Kultur die neuen Kälber sein müssen, um die Bewohner bei Laune zu halten, obwohl Schmutz und soziales Elend weitgehend exportiert wurde. Erschienen sind die zwei Bücher im Schuber im Essener Klartext Verlag.
Machen wir also einen Versuch. Augen zu. Band eins ertasten, beide Daumen als Werkzeug, blind aufschlagen. Seite 191 hat es geschafft. Ein Schreiben aus dem Jahre 1850 von Adolf Pilgrim an die Königliche Regierung zu Arnsberg (kein Jux) ist dort abgedruckt: „Viel Geschrei und wenig Wolle“ heißt es. Der Landrat des Kreises Dortmund beurteilt darin die vermuteten Vorkommen an Kohleneisenstein mit Skepsis. Blättert man ein paar Seiten weiter, findet man den Prospectus zur Errichtung einer Actien-Gesellschaft unter der Benennung „Hörder Bergwerks- und Hütten-Verein“ vom März 1852. Die Skepsis hat also nicht lange vorgehalten. Noch ein paar Seiten (Seite 215) weiter eine sehr interessante Warnung über die „Quelle von Elend und Verderben“. Das Oberbergamt warnt damit 1866 vor der Abwerbung preußischer Bergleute für türkische Bergwerke in Bosnien. Dort sei eben nicht nur ihr Leben, sondern auch ihr Seelenheil extrem gefährdet. Ein Jahr später kommt die heimatliche Region dann zu ihrem Namen „Ruhrgebiet“. Zum ersten Mal gebraucht wurde der Begriff von Nicolaus Hocker in: „Die Großindustrie Rheinlands und Westfalens“ (Leipzig 1867) und damit fing die Metropole, die bis heute keine ist, an zu wachsen. Wer wirklich wissen will, wieso und warum, für den haben mit Klaus Tenfelde und Thomas Urban zwei absolute Experten dieses Opus des Ruhrgebiets geschaffen. Es füllt nicht nur die neuronale Festplatte, sieht auch schick im Bücherschrank aus, sollte also in keinem Haushalt fehlen.
Klaus Tenfelde/Thomas Urban (Hg.): Das Ruhrgebiet – Ein historisches Lesebuch | Klartext-Verlag, Essen | ISBN: 978-3-8375-0286-2 | 2 Bände im Schuber, ca. 1100 Seiten; 44 Euro
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
„Charaktere mit echten Biografien“
Oliver Uschmann über seinen Roman „Ausgefranzt“ – Literatur 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Unschärfe der Jugend
Diskussion über junge Literatur im Essener KWI – Literatur 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Die großen Stiftungen scheinen es nicht zu kapieren“
Gerd Herholz über sein Buch „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ – Interview 04/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25
Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25
Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25
Aufwändige Abschlüsse
Comics, die spannend Geschichten zu Ende bringen – ComicKultur 02/25
Unsichtbare Krankheiten
„Gibt es Pflaster für die Seele?“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 01/25
Massenhaft Meisterschaft
Neue Comics von alten Hasen – ComicKultur 01/25
Gespräch über die Liebe
„In einem Zug“ von Daniel Glattauer – Textwelten 01/25