Es ist noch früh, als ich im Café Central des Grillo Theaters ankomme. Ich blicke in die Runde: Das heutige Thema der Deutschlandfunk (DLF) Lesart spricht vor allem Frauen an. Jede von ihnen schlendert mit Wein oder Café an ihren Platz. Heute scheint es privat und gemütlich zu werden. Zum Thema „Immer perfekt? Mütter unter Erwartungsdruck“ sitzen die beiden Journalistinnen und Schriftstellerinnen Antonia Baum und Barbara Tóth zusammen mit Jens Dirksen, Kulturchef der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) auf dem Podium. Es moderiert Christian Rabhansl vom DLF Kultur. Die Bücher, um die es geht, sind ‚Stillleben’ und ‚Stiefmütter. Leben mit Bonuskindern‘.
Moderator Rabhansl zitiert eine Stelle aus Antonia Baums aktuellem Buch. Darin fand sie sich eines Nachts am Fenster wieder weil ihre Schwangerschaft sie nicht schlafen lief. Sie hatte das Gefühl, zum Verschleiß frei gegeben zu sein.
„Ich war eine Frau, die in eine ganz andere Rolle kommt. Vorher habe ich ein Männer-Leben geführt“, so die Autorin. Was sie damit meint, ist, sie verdiente genug Geld, um sich unabhängig zu fühlen. Konnte funktionalisierte Beziehungen im Job führen und Freunde treffen, in einem zeitlich festgesteckten Rahmen. Dabei blieb Baum in ihrer persönlichen Komfortzone. Was sie zuvor minutiös selbst bestimmen konnte, wird nach der Geburt radikal heruntergebrochen; ihr Radius begrenzt sich mit Kind nur noch auf die eigene Wohnung. „Das Akzeptieren der Langsamkeit kollidiert da mit dem Effizienzgedanken“, führt die Journalistin aus. Antonia Baum kam es komisch vor, wie die Gesellschaft auf das kommende Kind reagierte. Bei der DLF-Lesart versucht sie, Worte dafür zu finden: Für andere „ist es vielleicht etwas Archaisches“, ein diffuses Gefühl „oh, es geht weiter“ in die nächste Generation. Die Kinderfrage ist dabei längst noch nicht eine Angelegenheit zwischen zwei Menschen, sondern zwischen ihnen und der gesellschaftlichen Norm. „Es ist keine private Entscheidung“, so die Autorin. Wenn es nach der Gesellschaft gehe, ist man „keine vollständige Frau ohne Kind“, so Baum. Auch, wenn Nachbarn sich längst ins Private zurück gezogen haben, liberal gegenüber religiöser und politischer Gesinnung agieren, sobald sich neues Leben ankündigt, und die Geschichte vermeintlich fortgesetzt werden könnte, gelten diese Parameter nicht mehr. „Du sollst dich freiwillig dazu entscheiden“ sagt sie und veranschaulicht damit auch das dahinter steckende Dilemma „für das eine“. Auch in Punkto Stillen fühle sich die Gesellschaft oft ungefragt zuständig, so empfand es Baum. „Sicher, es ist das Beste fürs Kind“, räumt sie ein. Aber „Sie hatten das Gefühl, ihre Brüste gehören dem ganzen Land“, macht es Moderator Rabhansl explizit.
Während Antonia Baum literarisch gegen ihre inneren Widerstände ankämpft, die das Muttersein zu Tage fördert, bewegt sich Barbara Tóth mit ihrem Buch in einem Bereich mit gesellschaftlich zweifelhaften Ansehen, dem der Stiefmutter. In früheren Zeiten trat die Stiefmutter ins Leben eines Kindes, wenn die leibliche Mutter verstarb. Heute trete sie zur leiblichen Mutter ins Familiensystem hinzu, erläutert Tóth. Diese zusammengewürfelten Patchwork-Familien haben weitaus mehr zu überwinden als konventionelle Paare, die nach dem ersten Rausch der Liebe eine Familie gründen. Es gehen ein paar Jahre ins Land, ehe sich das System aufeinander eingependelt hat.
„Die Gesellschaft geht zunächst gar nicht davon aus, Stiefmutter zu sein, sei wunderschön“ skizziert es der Moderator. Der Ruf der Stiefmutter ist mit Vorurteilen besetzt. Tóth möchte dafür ein neues Skript entwerfen. Sie ist in dieser Rolle aufgegangen. Die Journalistin aus Österreich bilanziert: „Wäre da nicht diese Übergangsphase im Vorhinein, wäre es perfekt.“ Denn es gebe Tage, an denen sie ausschlafen könne oder Wochenenden, an denen sie gezielt etwas mit einem Kind unternehmen könne. Diese Wahlfreiheit haben Kleinfamilien oft nur dann, wenn sie ihre Eltern oder Verwandten mit ins Boot holen. Allerdings gäbe sie zu bedenken, „Kinder in Stieffamilien benötigen auch eine doppelte Infrastruktur“. Das bedeutet, es ist nicht zuletzt eine Frage des Geldes, ob man Co-Working-Elternarbeit leisten kann oder nicht.
„Wann hört man zum ersten Mal verletzende Worte wie ‚du bist nicht meine Mutter’?“, will DLF-Moderator Rabhansl wissen. Tóth meint, das passiere schon sehr früh. „Trotzdem konstant bleiben“ ist ihre Devise, egal, ob’s um das Durchsetzen von Fernsehzeiten oder Tischmanieren gehe. Sie empfiehlt „Mütter könnten von Stiefmüttern lernen“, und damit der Perfektionismus-Spirale ein Stück weit entgehen. Dadurch, dass sich Stiefmütter bewusst für die neue Rolle entschließen, nehmen sie dazu deutlicher Distanz ein. „Man muss nicht alles tun, was man denkt, als Mutter tun zu müssen.“ Dieser Satz entlastet wohl eine ganze Generation Mütter schlagartig. Denn „in den letzten 10 bis 15 Jahren hat sich die Lage noch verschärft“, so Jens Dirksen. Nach Lektüre von Tóths Buch habe er jetzt „größeren Respekt vor Stiefmüttern.“ Und fügt hinzu „Die Katastrophen bleiben Außenstehenden meist verborgen“.
Beide Autorinnen kämpfen gegen eine gesellschaftlich tradierte Auffassung von spezifischen Rollenbildern und wollen damit aufräumen. Sie plädieren dafür, vermeintlich festgezimmerte Konnotationen umzudeuten und für sich selbst das Richtige zu finden. Die persönliche Auseinandersetzung macht sie nicht zuletzt im Anschluss an die Talk-Runde zu kompetenten Ratgeberinnen.
Die Podiumsdiskussion in voller Länge ist zu hören am 16.6. um 11.05 Uhr beim Deutschlandfunk Kultur.
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