Es gehörte zu ihren großen Auftritten, als die Mitglieder von dorisdean auf der Bühne des Bochumer Schauspielhauses standen und bei dieser Hochzeit mitfeierten, die Regisseurin Johanna Wehner 2018 in ihrer „Melancholia“-Adaption inszenierte. Schneller „wedding-plan“-Takt, erwartetes Glücklichsein – so erscheint diese Bühnenwelt, in der verschwimmt, was der Norm entspricht und was nicht. Und so schwingen existenzielle Fragen mit: Was bürden wir uns gegenseitig auf? Und wie nehmen wir uns wahr?
Immer wieder bringt die sechsköpfige, freie Performance-Kompanie dorisdean diese Themen auf die Bühne. So drehte sich ihre Performance „Haltung, bitte“ darum, welchen Körper Tänzer*innen haben müssen und welche gesellschaftlichen Anforderungen gestellt werden. „Es geht auch viel um die Erwartungen, die an Menschen herangetragen werden“, meint Philipp Hohmann, seit 2011 bei dorisdean. Als „Achtsamkeitsavantgarde“ bezeichnet er die Arbeitsweise des Kollektivs.
Denn für die „Performer*innen mit unterschiedlichen Körperlichkeiten“, wie sie sich selbst nennen, geht es auch darum, Normen und Erfahrungsformen zu verschieben. „Wir versuchen, die eigene Wahrnehmung zu vermitteln und das fühlbar zu machen“, erklärt Hohmann die künstlerische Agenda. „Vielleicht können es die Leute dann ahnen.“ Post-inklusiv ist ein zweites Schlagwort, das im Gespräch fällt. „Wer wird worin inkludiert?“, fragt Hohmann. „Es geht nicht darum, Behinderungen oder andere Unterschiede unsichtbar zu machen, sondern das Label Inklusion nicht vor sich her zu tragen.“
Patrizia Kubanek, seit 2011 bei dorisdean, hat Muskelschwund und nutzt einen Elektrorollstuhl. Trotzdem besteht ihr Alltag aus gleich drei Jobs: Neben ihren Auftritten unterstützt sie beruflich Menschen mit körperlichen Einschränkungen und berät sie zudem als Sexualberaterin. Oft werde das gesellschaftlich noch völlig ignoriert, so Kubanek: „Menschen mit Behinderung werden häufig als Asexuelle angesehen.“Mit gewissen Erwartungshaltungen und Kategorisierungen ist sie selbst ständig konfrontiert: „Mich nervt es maximal“, sagt sie. Und das gilt auch für die Bühnenprojekte: „Ich habe das Gefühl, dass das Publikum was erwartet, das wir nicht erfüllen.“
Denn dorisdean ist eben kein soziales Projekt, selbst wenn sie vor und hinter der Bühne achtsam miteinander umgehen. „Das ist für uns ein ein ästhetisches Prinzip“, erklärt Philipp Hohmann. Das altgriechische Wort „aisthesis“ steht für Wahrnehmung. Und genau diese wollen sie bei dorisdean verschieben: weg von den in- und exklusiven Einordnungen und Normen, hin zu einer Sensibilisierung des Nächsten. „Jeder von uns hat seinen eigenen Kopf und Wahrnehmungen“, sagt Patrizia Kubanek.„So, wie ich nicht zur Arbeit kommen kann, wenn ein Aufzug kaputt ist, können vielleicht Kolleginnen wegen ihrer Depression mal nicht kommen.“
Innerhalb des Kollektivs funktioniere es schon, das achtsam wahrzunehmen. Hierarchiefrei, ohne Leistungsdruck soll es funktionieren. Dass viele Bühnen keinen barrierefreien Zugang haben oder dass die meisten Inszenierungen nicht in Gebärdensprache stattfinden, hindert diese Gleichberechtigung im Alltag jedoch.„Wir nehmen alle unterschiedliche Schwingungen wahr. Mir fällt natürlich eher auf, dass da schon wieder Stufen sind“,so Kubanek.
„Es sind kleine Schritte, die in diese Richtung gehen“, hofft Philipp Hohmann, dass ihre künstlerische Arbeit hilft, solche Hürden zu überwinden. „Aber es kann eine Stärke und Selbstverständlichkeit sein.“ Genau die wird bei dorisdean verkörpert.
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