„Man liest im Grunde immer nur Texte, die einen bestätigen“, meint Rolf Baumgart. Dabei denkt er ebenso an die Essays der Gesellschaftskritik wie an die Bildschirme der digitalen Welt. Statt Erweiterung des Horizonts lieber das Bekannte – eine Devise, ohne die das Fernsehen gar nicht existieren könnte. Erst dort, wo wir mit dem Anderen konfrontiert werden, eröffnet sich uns die Möglichkeit, Erfahrung zu machen. Rolf Baumgart und Yoshiko Waki, die Gründer des Tanztheater bodytalk, legen in ihrer Arbeit eine eigene Konsequenz an den Tag, wenn es darum geht, das Heterogene, Unbequeme und manchmal auch Provozierende anzusteuern. So präsentierten sie letzten Sommer in der Produktion „Fleshmob mit Toten“ eine Reflexion über die Flüchtlingskrise mit Themen, die erst ein halbes Jahr später in die Öffentlichkeit dringen sollten. Da wurden die Bilder der nackten, ertrunkenen Flüchtlinge ebenso zum Thema, wie der Silvester-Mob vor dem Bahnhof in Köln. Ereignisse, die die Frage aufwerfen, welche Flüchtlinge wir haben wollen. Jedenfalls sollen sie sympathisch sein und in der Summe ihrer Eigenschaften Vorstellungen einlösen, die wir uns selbst nicht abverlangen würden.
Nach zwei Jahren in Bonn, wo sie durch die Arbeit mit Johann Kresnik ansässig waren, folgten sieben Jahre in Köln mit Erfolgen, wie der opulenten Produktion „Frauen – Bewegung“ und dem Gewinn des Kölner Tanzpreises für das Auschwitz-Stück „Jewrope“. Mit ihrer Mischung aus scharfer politischer Analyse und spielerischem Humor stellte bodytalk eine feste Größe in Köln dar. Nun erfolgt der Wechsel nach Münster ins Pumpenhaus. Dessen Leiter, Ludger Schnieders, lockte das Paar in der Nachfolge von Sami Akika mit dem Status als Artists in Residence. „In Münster wird alles für die Künstler getan“, sagt Baumgart, und meint konkret, dass es weder an Räumen und Probenzeiten, noch an einer Waschmaschine fehlt. Trotzdem fühlten sie sich in Köln wohl. „Es war ein Glücksfall, dass wir hier von der Kritik so viel Ermutigung bekommen haben“, erklärt Yoshiko Waki. „Aber es ist auch wunderbar, wenn man von einem Veranstalter gewollt wird“, fügt sie hinzu. Das Pumpenhaus besticht mit einem exquisiten Programm und stellt sich als eine finanziell etablierte Institution dar. Eine Tatsache, die in NRW von Bedeutung ist.
Münster wird seine Freude an den sperrigen, aktionsgeladenen und in ihrer Methodik immer wieder überraschenden Produktionen der beiden haben. „Wir sind der Überzeugung, dass Erfahrung nur von Mensch zu Mensch weitergegeben werden kann“, erklärt Waki. Deshalb gibt es in ihren Choreografien stets ein Mischungsverhältnis zwischen jungen und älteren Akteuren, so dass das Lernen voneinander zu einem grundsätzlichen Bestandteil der Arbeit wird. Für das Publikum bedeutet das, politisch und ästhetisch wird das Unterste zuoberst gekehrt. Was kann man sich besseres vom Theater wünschen?
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