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Denkt an gestern und freut sich: Wilhelm Genazino in der Stadtbücherei Duisburg
Foto: Dominik Lenze

Meditationen am Main

25. Oktober 2015

Wilhelm Genazino in der Stadtbibliothek Duisburg – Literatur Ruhr 10/15

Literatur vermag so vieles: Sie kann bezaubern oder erschrecken, beruhigen und nachdenklich machen oder auch aufstacheln. Sie kann in exotische Welten entführen oder scheinbar Gewöhnliches in neuem Glanz erstrahlen lassen. Mit der Lesungs-Reihe „ruhrSpott“ hat das Literaturbüro Ruhr das eindrucksvoll bewiesen, dank Gästen wie Georg Stefan Troller, Harald Martenstein und vielen anderen. Nun las Erfolgsautor Wilhelm Genazino aus seinem Werk „Tarzan am Main – Spaziergänge in der Mitte Deutschlands“, moderiert von Arte- und SWR-Journalistin Gabriele von Arnim. Die Lesung in der Duisburger Stadtbibliothek war restlos ausverkauft – aber wieso eigentlich? 

Denn Genazino, ehemaliger Pardon-Redakteur und Träger des Georg-Büchner-Preises (2004), ist ein vergleichsweise handzahmer Schriftsteller: Seine Texte bestehen überwiegend aus schön geschriebenen, aber wenig aufregenden Alltagsbeobachtungen. Meistens ist es seine Wahlheimat Frankfurt, schon rein geographisch die Mitte Deutschlands, auf die er seinen Blick wirft. Zweifellos bietet die Mainmetropole genug Stoff für ganze Bibliotheken: Mit dem richtigen Blick offenbart sich zwischen Gallus und Bankenviertel eine ganze Gesellschaft. Doch der 72-jährige Romancier lässt seinen Protagonisten lieber über einen Flohmarkt schlendern, gedankenversunken kramt er sich durch Second-Hand-Belanglosigkeiten aus dem letzten Jahrhundert.

Zum Beispiel eine Kroko-Handtasche. Oder einen Hüfthalter. Die Gelegenheit, die fade Nostalgie mit ein wenig Ödipus-Komplex zu würzen: Der Romanheld verliert sich in Erinnerungen daran, wie er einst seiner Mutter die Strapse zuknöpfte. Im Anschluss amüsiert sich Genazino darüber, wie früher „ganze Schulklassen über das Wort Büstenhalter lachten“. Wenn Gabriele von Arnim ihn nach der Besonderheit Frankfurts fragt, erzählt er von polnischen Wildgänsen an den Ufern des Main und ihrem Paarungsakt: „Ein entzückendes Schauspiel“, findet Genazino und gluckst vor kindlicher Freude.  

Zombiegleich schwebt sein Protagonist von einer Trivialität zur nächsten, seien es nun junge Bäckerinnen oder ein Alkoholiker, der Pfand abgibt. Ab und zu hält er inne, um mal wieder ein wenig an früher zu denken: „Kassettenrekorder – gibt es dieses Wort überhaupt noch?“ All dies ist zwar in einer zarten, klaren Sprache formuliert – aber das macht es deshalb nicht aufregender.

Der Zauber von Genazinos Werk liegt wohl in diesem meditativen Effekt, der sich nach etwa einer halben Stunde Lesung einstellt: Warme, weiche Watte bettet das müde gewordene Hirn zur Ruh’, und gemeinsam mit Wilhelm Genazino flaniert man durch die belanglosesten Ecken Frankfurts. Oh, schau, da liegt ein Kätzchen im Schaufenster! Ist es nicht putzig? Komm, lass uns zum Main, und die vögelnden Wildgänse mit Brotkrumen füttern bis die Herbstsonne untergeht. 

Dominik Lenze

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