Paris – Essen: Vier Stunden Zugfahrt, keine Sekunde Langeweile und ein Sammelsurium möglicher Geschichten. Zumindest, wenn man sich ein Stückchen kindlicher Neugier auf den Menschen erhalten hat. So wie Hans Georg Troller, der am 9.9. aus seiner Wahlheimat Paris ins deutsch-französische Kulturzentrum Essen kam, um vor über 120 Zuschauern zu lesen.
„Die Leute fragten sich wohl: Was starrt der Mann mit dem weißen Bart so?“, erzählt er. „Ich wollte einfach nur wissen, was in denen vorgeht.“ Auch nach Gesprächen mit Woody Allen, Muhammad Ali und über 1000 anderen Figuren der Zeitgeschichte ist der Interview-Koryphäe nie diese Neugier am Menschen abhanden gekommen. Eine Neugier, die den inzwischen 93-jährige zu großen und kleinen Geschichten führte, und zu scharfen Alltagsbeobachtungen voller Witz.
In zarter Sprache beschreibt er seine Streifzüge er seine Streifzüge durch das von Nazis besetzte Paris, die Stadt, die ihn schon als 17-jähriger verzauberte. Mit bissigem, trockenem Humor entführt Troller seine Zuhörer in das Wien seiner Jugend, am Vorabend des Schreckens. Die Literatursalons, das aus Europa ausgerottete jüdische Leben, die berühmten Caféhäuser, bevölkert von Bohémiens, Künstlern und denen die es gerne seien wollen, werden wieder lebendig, wenn Troller mit seiner ruhigen, tiefen Stimme vorliest. Und in diesem Zug auch der berühmte jüdische Humor – für Troller, ein „Lachen am Abgrund“.
Ein Caféhaus-Gespräch: „Wieso liest du als Jude eigentlich antisemitische Hetzschriften wie die Reichspost oder den Stürmer?“ – „In unseren Zeitungen erfahre ich bloß von Stalins und Hitlers Deportationen. In der Reichspost lese ich, dass wir die Banken kontrollieren und die Welt beherrschen. Ich mag lieber gute Nachrichten.“ Nur beiläufig erwähnt Troller zwischen den kleinen Erzählungen das Deportationsdatum mancher Protagonisten. Kurz wird es ganz still. Wie selbstverständlich folgen darauf Anekdoten aus Trollers Studentenleben in Los Angeles, von grandios gescheiterten Interviews mit Picasso oder Brigitte Bardot und kleine Lehrstücke über das inoffizielle Kastensystem der Pariser Schickeria.
Kurzum: eine Lesung wie ein Blick durchs Kaleidoskop auf ein bewegtes Leben. „Leben ist die Summe intensiv erlebter Augenblicke“, sagt Troller. Mit ein bisschen Neugier, wer weiß, sind die sich vielleicht auch auf einer vierstündigen Zugfahrt entdecken.
Die Lesung fand im Rahmen der Reihe „RuhrSpott“ statt, Veranstalter ist das Literaturbüro Ruhr. Die nächsten Lesungen sind am 11.9. in Gladbeck (20 Uhr), mit Christine Sommer und Martin Brambach und dann am 16.9. in Mülheim (20 Uhr) mit Sophie Rois.
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