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Marie Klee
Foto: privat

„Industrie zu eng mit Politik verbandelt“

15. Juli 2020

Klimaaktivistin Marie Klee über die Übermacht der Autolobby

trailer: Frau Klee, im Betrugsskandal ist VW relativ glimpflich davongekommen. Wie konnte die Autoindustrie in Deutschland so mächtig werden?

Marie Klee: Dass die Autoindustrie in Deutschland so hofiert wird, ist historisch gewachsen. Ich finde es völlig absurd und superkriminell – VW hat strategisch betrogen, um Profit zu machen. VW hat bewusst Autos verkauft, die mehr Schadstoffe ausstoßen als angegeben.Dieses bewusste Überschreiten der Abgasgrenzwerte ist für fast 40.000 vorzeitige Todesfälle jährlich verantwortlich. Die Vorstände sind immer noch auf freiem Fuß, der Konzern zahlt weiterhin Dividenden und ist regelmäßig bei der Bundesregierung im Gespräch. Was wir von „Sand im Getriebe“ aber auch kritisieren, ist das alltägliche, ganz legale Geschäft der Auto-Konzerne, welches unsere Gesellschaft massiv schädigt.

Warum ist das so?

Die Autoindustrie hatte großen Anteil am sogenannten Wirtschaftswunder. Der motorisierte Individualverkehr wurde lange als Fortschritt für persönliche Mobilität und Freiheit verkauft. Wir haben unsere Städte komplett auf das Auto zugeschnitten und uns so systematisch davon abhängig gemacht. Die Industrie ist viel zu eng verbandelt mit der Politik und dadurch überdurchschnittlich laut und einflussreich. Die Autoproduktion ist außerdem ein zentraler Prozess – das heißt, Kurzarbeit etwa trifft ganz viele Menschen geballt an einem Ort. Das lässt sich leichter vermitteln als die gleiche Anzahl an Betroffenen, die weit verteilt sind, beispielsweise in der Gastronomie. Gleichzeitig ist die Autoindustrie auch ein Symbol für Kapitalismus, also für die Ausbeutung von Menschen und für Wachstumszwang.Damit kann man Autoindustrie nicht infrage stellen ohne eine Systemfrage.

Was kann euer Bündnis dagegen ausrichten?

Die Art, wie wir leben und wirtschaften, ist zutiefst ungerecht und klimaschädlich. Daran hat die Autoindustrie einen großen Anteil. Deswegen müsste es eigentlich dringlichste Aufgabe der Politik sein, einen sozialen Rück- und Umbau der Branche zu organisieren. Genau das aber passiert nicht. Wir müssen als Bündnis die Verkehrswende daher selbst auf die Straße bringen und deutlich machen, dass wir Dinge als normal hinnehmen, die es einfach nicht sind. Eines unserer Mittel ist der zivile Ungehorsam. Wir stellen uns friedlich und entschlossen Klimazerstörung und Ungerechtigkeit in den Weg. Auch wenn wir dabei ungerechte Gesetze übertreten müssen.

Wirkt euer Engagement?

Während unserer ersten Blockade bei der Internationalen Automobilausstellung hatte ich den Eindruck, dass die Autoindustrie in keinem Artikel vorkam ohne Nennung der von ihr zu verantwortenden Klimazerstörung und sozialen Ungerechtigkeit. Das ist ein wahnsinnig großer Erfolg.

Die Bundesregierung hat sich gerade erst gegen eine neue Abwrackprämie für Verbrenner entschieden. E-Autos sollen dagegen weiter gefördert werden. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?

Dass keine explizite Abwrackprämie für reine Verbrenner im Konjunkturpaket steht, ist ein großer Erfolg des Widerstands. Zum ersten Mal bekommt die Autoindustrie nicht mehr alle ihre Wunschlisten einfach so durch. Wenn ich hoffnungsvoll bin, sehe ich darin den Beginn einer Verschiebung von Machtverhältnissen – das wäre richtig gut. Was aber nicht sein kann, ist, dass jetzt alternative Antriebe als Verkehrswende verkauft werden. Plug-Ins zum Beispiel sind ein supergroßer Etikettenschwindel. Das sind einfach größere, schwerere Autos, die meistens als Verbrenner gefahren werden. Was wir brauchen, sind weniger Autos auf den Straßen, einen kostenlosen Nahverkehr und einen massiven Ausbau von Fuß- und Radwegen. Ganz grundsätzlich müssen wir den Kern des Problems angehen – nämlich eine politische Rahmensetzung, die immer noch auf den Autoverkehr ausgerichtet ist. Wir brauchen eine Gesellschaft, die nicht mehr abhängig ist vom Verkauf von Autos. Das sehe ich in dem Paket noch nicht.

Ihr fordert, öffentliche Gelder an Verpflichtungen zum sozial-ökologischen Umbau der Autoindustrie zu koppeln. Wie lässt sich das demokratisch realisieren?

Ich glaube, es sind schon enorm viele Menschen davon überzeugt. Bei der letzten Abwrackprämie war der Großteil der Menschen dagegen. Welche Erfahrung wir immer wieder bei den Aktionen machen, ist, dass es für Menschen total empowernd ist, wenn sie feststellen: „Hey, ich muss Ungerechtigkeit nicht hinnehmen und das, was mir hier als normal verkauft wird, muss gar nicht so sein. Ich kann mich auch aktiv dagegen entscheiden.“ Da wollen wir die Räume fürs Denken groß machen. Wenn wir über eine sozial-ökologische Verkehrswende reden, müssen wir natürlich auch mit den Beschäftigten in der Autoindustrie reden – nicht mit den Vorständen und Aktionären, denn die profitieren vom Status Quo. Die Arbeiter in der Autoindustrie wissen, was sie alternativ herstellen könnten, und auch, wie sie in Zukunft arbeiten wollen. Wir müssen auch mit den Beschäftigten reden, die jetzt schon in den Zukunftsalternativen arbeiten, im ÖPNV zum Beispiel. Die hätten dieses Jahr eigentlich gestreikt und Tarifverhandlungen gehabt, das hätten wir als Klimagerechtigkeitsbewegung unterstützt. Natürlich muss es in einer klimagerechten Welt auch gute Arbeitsbedingungen geben. Wir reden über eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft, da müssen wir alle dran beteiligen. Es gibt leider keine Patentlösung.

Die Autoindustrie ist eine der größten Parteispender, vor allem der CDU. Kann sich überhaupt grundlegend etwas ändern, solange Politik und Autobranche derart finanziell verbandelt sind?

Generell ist die Klüngelei zwischen Politik und Wirtschaft einfach immer skandalös, egal ob es um die Autoindustrie geht oder um RWE. Bei der Automobilindustrie sehen wir ganz besonders deutlich einen Drehtüreneffekt zwischen Lobby und Politik. Die politischenVertreter der Autoländer Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsenhaben teilweise Aufsichtsratsposten und Anteile an den Autokonzernen, das heißt, sie sichern sich mit ihrer autozentrierten Politik eigene Interessen ab – das geht natürlich gar nicht. Solange Politik so eng verbandelt ist mit den Konzernen, welche nach einer kapitalistischen Logik immer mehr Gewinn anhäufen müssen und deswegen auch gar keinen freiwilligen Wandel angehen können, können wir nicht abwarten und auf die Politik setzen. Wir müssen die notwendige Veränderung selbst in die Hand nehmen.

In der Coronakrise wurde deutlich, wie handlungsfähig, wissenschaftsbezogen und unabhängig von Wirtschaftsinteressen die Regierung sein kann. Warum haben Prognosen für den Klimawandel nicht denselben Effekt?

Ich fand es ermutigend zu sehen, wie viele politische Handlungsspielräume es gibt. Die möchte ich auch in Zukunft sehen. Es kann sich niemand mehr rausreden und sagen, das Geld sei nicht da. Ich glaube, dass bei Corona so viel ging, hat viel mit kürzeren Feedbackschleifen zu tun. Das heißt, bei Corona weiß man nach zwei Wochen, ob und wie Maßnahmen oder Verhaltensweisen wirken. Eine Klimakrise geschieht viel länger und schleichender, das ist aus einer individuellen Risikowahrnehmung einfach ungünstig. Wir haben außerdem ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, welches kurzfristiges Handeln viel mehr belohnt als langfristiges. Politische Entscheidungen in Bezug auf Klimawandel wirken erst, wenn die Person schon lange nicht mehr im Amt ist. Die Lobby hatte außerdem viel Zeit, sich darauf einzustellen und hat zeitweise sehr erfolgreich Zweifel gestreut am Ernst der Bedrohung. Eine Pandemie ist auch nochmal näher, weil sie so direkt sichtbar ist. Ein Covid-19-Toter ist eindeutig auf den Virus zurückzuführen, er hat ein Gesicht, einen Namen und war vielleicht der Nachbar. Bei der Klimakrise sind die Aussagen viel komplizierter, da ist das Wetter etwa mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auf die Klimakrise zurückzuführen. Ein ganz wichtiger Punkt ist, glaube ich, auch: Bei der Corona-Pandemie wird uns suggeriert, wir bleiben jetzt mal kurz zu Hause und dann geht es weiter wie bisher. In Bezug auf die Klimakrise wird es dieses „weiter wie bisher“ nicht geben. Wenn wir die Klimakrise angehen und ein gutes Leben innerhalb der planetaren Grenzen haben wollen, dann müssen wir die Art und Weise, wie wir leben und wirtschaften, ganz grundsätzlich umstrukturieren. Das ist eine viel größere Aufgabe und das gefällt natürlich den Menschen und Unternehmen, die aktuell profitieren, nicht. Gleichzeitig sehe ich eine richtig große Chance in der grundsätzlichen Umstrukturierung. Wir können eine Gesellschaft werden, in der es allen besser geht.

Beim Autogipfel am 5. Mai, bei dem sich hochrangige Mitglieder der Autoindustrie mit Merkel trafen, um über Staatshilfen zu reden, waren Vertreter der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft und des Umweltministeriums nicht eingeladen. Ist das demokratisch?

Das zeigt, dass die Autolobby einen direkten Draht zur Regierung hat. Ich finde es total absurd, gerade bei solchen Entscheidungen, welche das Klima und damit unsere gesamte Zukunft betreffen. Da müssten eigentlich vielfältige Akteure und diverse Perspektiven vertreten sein – dass man stattdessen den Lobbyverband einlädt, ist skandalös. Dieser enge Austausch zwischen Bundesregierung und Autoindustrie ist kein Aushängeschild für eine gute demokratische Praxis.

Was wünschst du dir für die Zukunft?

Ich wünsche mir viel mehr Fuß- und Radwege. Ich wünsche mir einen kostenlosen, gut ausgebauten Nahverkehr, damit auch die Leute mit weniger Geld und ohne Führerschein wirklich in den Städten mobil sein können – dann brauchen wir keine Autos mehr. Ich wünsche mir eine Autoindustrie, die massiv geschrumpft ist und an Einfluss verloren hat, dabei aber einen sozial gerechten Übergang mit allen Beschäftigten gestaltet hat. Ich denke an Städte mit viel mehr Platz, die auch Raum für Erholung bieten und die insgesamt lebenswerter und gerechter sind. Das schließt auch ein, dass alle Menschen ein Recht auf sichere Mobilität haben und nicht nur die mit einem bestimmten Pass. Ich wünsche mir eine klimagerechte, antirassistische und sozial-gerechte Gesellschaft.


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www.elektromobilitaet.nrw | Wer sich aus CO2-Gründen von Diesel und Benziner verabschieden will, findet auf diesem Portal viel Wissenswertes.
www.bmjv.de/DE/Verbraucherportal/Verbraucherportal_node.html | Das Justizministerium will hier die Verbraucher:innen zu diversen Themen mit „Wissen wappnen“.

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Interview: Mareike Thuilot

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