Wie sagte doch unser aller Literaturpabst, als er dereinst auf den frisch gekürten Literatur-Nobelpreisträger Kenzaburō Ōe angesprochen wurde (mehr oder minder frei wiedergegeben und durchaus nachvollziehbar): Man kann nicht alles lesen. Eine Spezialisierung, die ihm keiner streitig machen will und die ihn schlussendlich auf den heiligen Stuhl gebracht hat. Trotzdem kann es nicht schaden, mal über den Tellerrand hinauszuschauen. Also das Säcklein geschultert und raus in die weite Welt.
Russland – Alexander Ilitschewski: „Matisse“ [Matthes&Seitz]: Es gibt im Moment wohl kein Land, das mit einem brachialeren Widerspruch zwischen obszönem Reichtum und tragischer Armut, geistiger Unterdrückung und staatlich gefördertem Stumpfsinn aufwarten kann als Putins Oligarchie. Kein Wunder, dass die Intelligenzija die Flucht antritt – bis auf einen sinnenbeseelten Physiker, den es auf eine abstruse Reise raus aus der trostlosen Urbanität, rein in den heilsversprechenden Pathos unendlicher Weite verschlägt. Eine Groteske in Moll von atemberaubender Schönheit. / Japan – Arimasa Osawa: „Giftaffe“ [Pendragon]: Weit hektischer geht es da im Land der aufgehenden Sonne zu; speziell im dunklen Herzen Tokios, wo sich ein unbestechlicher Kommissar auf Yakuzzi-Jagd begibt. Mit einem hehren Idealismus, für den die ehrenwerte Gesellschaft mit ihren knallharten Codizes allerdings wenig, um nicht zu sagen gar nichts übrig hat. Waschechte Hard-Boiled-Spannung à la Takeshi Kitano at its best. / USA – Céline Minard: „Mit heiler Haut“ [Matthes&Seitz]: Wer die im Grunde immer noch pubertierende Weltmacht verstehen will, kommt um einen guten Western nicht umhin. Ob Kuhjunge oder Puffmutter, Scout oder Händler, der unerschütterliche Pioniergeist, mit dem sich jeder einzelne in sein Leben stürzt, zieht einfach in den Bann. Von wegen reine Neoromantik. Metaphorische Western-Power à la „Deadwood“ in Zeiten von Ich-AGs und Start-up-Unternehmen. / WWW – Andrew Keen: „Das digitale Debakel“ [DVA]: Eine feurige Aufbruchsstimmung, wie wir sie auch noch aus den Anfängen des Internets kennen. Was haben wir frohlockt: Offenheit, Freiheit, Gerechtigkeit. Geistiger und materieller Wohlstand. Das Gegenteil war der Fall. Nett, dass der Autor auch von Rettungsmöglichkeiten spricht, aber warum sollte es in der Virtualität anders zugehen als in der Realität?! / Trinidad – Fondation Beyeler, Ulf Küster: „Peter Doig“ [HatjeCantz]: Dann doch lieber Abtauchen in die grandios dichten Gemälde des zwischen Trinidad, London und New York wandelnden Schotten. Kunstgenuss in Form eines Bermudadreiecks aus überraschenden Farben, melancholischem Thrill und meisterlichem Pinselstrich. / Österreich – Bernhard Aichner: „Schnee kommt“ [Haymon]: Und was erwartet uns zurück in der friedvollen deutschsprachigen Heimat? Ein herrlich sinnbildliches Locked-Room-Drama. Da verspricht ein pickepackevoller Geldkoffer endlich Licht am Ende des Tunnels, um direkt hinein in den nächsten Tunnel zu führen. Biestiger kann sich das Leben selbst nicht präsentieren. Es liegt in deinen Händen – oder wie es Marcel René Marburger und Rodrigo Barria Knopf bei aller multimedialen Determinierung mit ihrer Schicksal-App für ein paar Cent schelmisch auf den Punkt bringen: „U turn it“ …
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