Der Deutsche Bühnenverein als Lobbyverband der Theater und Orchester hat im Winter eine Umfrage zur Publikumsnachfrage gestartet. Von 311 befragten Bühnen und Sinfonieorchestern haben 131 geantwortet und angeblich einen Anstieg der Auslastung konstatiert: von 67 Prozent im September auf 80 Prozent im Dezember. Die Zeitschrift „Kursbuch“ hat im Dezember ein Themenheft zur „Knappheit“ veröffentlicht. Dort beschreibt der Soziologe Armin Nassehi in seinem Aufsatz „Dehnungsfugen und Reservelücken“, wie die knappe Kalkulation letztlich eine Gesellschaft mit steuert, die über „keine Einschränkungsimperative“ wie Normen, Hierarchien oder Schichten mehr verfügt. „Störungen tauchen dann auf, wenn mehrere knapp kalkulierte Logiken aufeinandertreffen und sich gegenseitig die Spielräume nehmen“, heißt es da.
Zuschauer:innen sind bekanntlich ein knappes Gut am Theater, aktuell und grundsätzlich. Nicht nur, weil Freizeit-Normen sich verändern, sondern weil darüber hinaus auch Kalkulationsversuche wie das Abo an Bedeutung verlieren. „Kalkulationen sind scharf, deshalb sind sie nicht auf Passungen mit dem Nichtkalkulierbaren eingestellt“, schreibt Nassehi. Die Corona-Krise aber auch der Ukraine-Russland-Krieg waren nicht vorhersehbar. Angst vor Ansteckung, Finanzfragen, Krisengefühle und Wertefragen ließen die Zuschauer:innen plötzlich anders kalkulieren als die Theater. Und weil die Krisen eigentlich nicht abgehakt sind, macht die im Februar veröffentlichte Umfrage des Bühnenvereins eher stutzig.
Sind nicht gerade die Wintermonate die Zeit, in der Theater ihre Kalkulation ganz auf die Gruppe der Kinder- und Jugendlichen ausrichten? Wie ist der Stand bei den in der Corona-Zeit gekündigten Abos? Sind alle coronabedingt gesperrten Plätze in den Zuschauerräumen wieder freigegeben? Wenn nur etwas mehr als ein Drittel der Theater die Umfrage beantwortet, was ist mit dem Rest? Und letzte Frage: Wie passt es zusammen, dass die kriegsbedingte Inflation die Bürger:innen sparen lässt, was beim Handel zu massiven Umsatzeinbrüchen führt, aber die Theater dem zu trotzen scheinen? Die Theater hielten ihre subventionierten Eintrittspreise nicht nur stabil, sondern boten discountermäßig Rabatte an. Um die aktuelle Situation wirklich beurteilen zu können, bedürfte es mehr als das Gute-Laune-Marketing des Bühnenvereins.
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