„Wart ihr eigentlich schon im neuen Museum?“
Frantek tat ganz bewandert und erzählte, was er schon wusste. Dass es „Folkwang“ heiße und Essen verändern werde. Und dass er natürlich schon drin gewesen war.
„Was von Dora blieb“, der Debütroman von Anja Hirsch, führt in die 1920er Jahre, ohne auf die „Babylon Berlin“-Schiene aufzuspringen. Das Ruhrgebiet bietet eine ganz andere Kulisse: Hier wird malocht und nicht ausschließlich dem schönen Schein hinterhergejagt. Drei Jugendliche – zwei Beamtentöchter, ein Arbeitersohn - suchen ihr Glück nicht in Ausschweifungen in verruchten Etablissements, aber sie folgen dem Ruf der kulturellen, musischen Bildung, die in ihren Elternhäusern wenig Achtung genießt. Dora, Maritz und Frantek zieht es früh ins Theater, ins Museum und schließlich gemeinsam an die Handwerker- und Kunstgewerbeschule in Rüttenscheid, die später als Folkwang-Hochschule Renommee erlangen wird.
Die in Unna lebende Anja Hirsch ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und arbeitet seit Mitte der 90er Jahre als Journalistin für Print und Funk. Den Wechsel vom Journalismus zum belletristischen Schreiben sieht sie nicht als Sprung an. „Ich habe eigentlich schon immer geschrieben, beobachtet, mir Notizen gemacht, auch Kurzprosa geschrieben. Für etwas Längeres fehlte mir allerdings die Ausdauer – bis ich auf den Familienstoff stieß.“
Von Skizzenbüchern und Folianten
Der Auslöser für den Mehrgenerationenroman liegt tatsächlich in einem autobiografischen Motiv. „Schon als Kind hatte mich ein Portrait meiner Großmutter, die ich kaum kennengelernt hatte, fasziniert und verstört. Irgendwann bin ich auf ihre Skizzenbücher gestoßen, wollte mehr erfahren über diese Person und ihr wechselhaftes Schicksal.“ Eine sehr ähnliche Szene findet sich im Eingangskapitel des Romans, als Ich-Erzählerin Isa im Jahr 2014 von ihrer Mutter eine Kiste mit Briefen und Fotoalben ihrer Großmutter Dora in die Hände gedrückt bekommt. Isa beginnt, weiter zu forschen – und natürlich hat dies auch ihre Erfinderin getan.
Anja Hirsch recherchierte zur Entwicklung der Kunstgewerbeschule zur Folkwang-Schule, historischen Streitereien zwischen Essen und Düsseldorf (was einem gar nicht so unbekannt vorkommt, wenn man die aktuellen Diskussionen über den Standort eines Bundesinstituts für Fotografie bedenkt). Die Tage im Stadtmuseum Essen haben Hirsch besonders imponiert: „In den zum Teil riesigen Folianten zu blättern, in die Dokumente zur Gründungsidee der Folkwang-Schule einzutauchen, war beeindruckend. Auch Christoph Dorsz von der Folkwang-Uni hat mir schöne Funde und Zeitschnipsel aus dem Folkwang-Archiv gezeigt. Etwa die Einladungskarte zum sogenannten ‚KuKa‘ der Schule, dem Kunstkarneval. Der findet auch Erwähnung im Buch.“
Zwei verschiedene Schuhe
Auf ganz andere Art und Weise beeindruckt hat sie eine andere Episode: „Ich brauchte für gewisse Szenen auch einen Ort, an dem meine Romanfiguren feiern konnten. Über Suchmaschinen bin ich auf das Tanzlokal „Zornige Ameise“ gestoßen. Mir gefiel der Name und auch die Geschichte des Hauses“, erläutert Hirsch, „und irgendwann, durch Zufall, ich glaube sogar, wir hatten uns verfahren, stand ich bei einer Radtour am Ruhrtalweg leibhaftig vor diesem Lokal. Daneben Inhaber Drago Begic, der in zwei verschieden farbigen Schuhen sein Auto waschen ließ – wie eine Romanfigur, aber aus einer anderen Zeit als in meinem Roman.“
Anja Hirsch erzählt in zwei Zeitebenen. Durch die Figur der Isa, die im Jahr 2014 mit ähnlicher Motivation in die Familiengeschichte abtaucht, hat sie die Möglichkeit, die eigenen Recherche- und Erkenntnisschritte in den Roman einzubauen, ohne dass dies zu einem rein dozierenden Aneinanderreihen von Fakten wird. Dabei bekennt sie freimütig: „Der Journalismus macht zweierlei: Man lernt viel über Dramaturgie, den Aufbau von Texten – aber die Entwicklung eines eigenen Stils wird eingeschränkt.“
Ihre Ich-Erzählerin Isa spiegelt durchaus die eher journalistische Seite der Autorin, in Dora hingegen lebt sie ihre Fabulierlust aus. Die kindliche Dora sammelt „Fröhlichwörter“, erfreut sich am Klang von Sprache. Da hält es Anja Hirsch ähnlich. Sie genießt eher langsames Lesen, ein Abtauchen in den „Hallraum der Sprache“. Auch beim Schreiben hat sie „die Sprache immer wie Musik im Kopf. Deshalb brauche ich um mich herum auch Stille – oder alternativ einen undefinierten Lärmpegel im Café. Dann wird die Sprache zu visuellem Theater.“
Echte Menschen, echte Fragen
Die aufkeimende Kulturszene im Revier der 1920er ist jedoch nur ein Teilaspekt des Romans, in dem Anja Hirsch die Persönlichkeitsentwicklung einer Frau schildert. Die Szenen im Theater, an der Kunstgewerbeschule zeigen auf, was aus Dora hätte werden können. Dora entscheidet sich jedoch letztlich für einen anderen Weg, heiratet einen Verwaltungsdirektor der I.G. Farben – und Isa muss erfahren, dass ihr Vater an einer Napola-Schule gedrillt wurde, beginnt zu ahnen, dass Ihr Großvater möglicherweise in das Geschäft mit der Vernichtung der Juden verstrickt war. Doch hier kommt sie mit ihren Nachforschungen nicht weiter.
Anja Hirsch teilt das schwere Schicksal vieler Autoren, deren Werke in der Lockdown-Zeit auf den Markt gekommen sind: „Vor allem Debüts haben es aktuell sehr schwer, wenn man nicht so präsent sein kann, wie es der Markt erfordert. Auf schriftlichem Weg habe ich schon sehr positive und schöne Rückmeldungen auf das Buch erhalten. Aber ich freue mich ungemein, nun bald außerhalb von Zoom und Co. aus dem Roman lesen können. Ich bin gespannt auf echte Menschen, echte Fragen.“
Anja Hirsch: Was von Dora blieb | C. Bertelsmann | 336 S. | 20 €
Lesungen: Sa 7.8. 15 Uhr im Kunstmuseum Bochum & 19.30 Uhr im Hof des Gymnasiums Petrinum, Recklinghausen
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