Echte Kämpfer – das sind im Film kernige Typen, die im blutverschmierten Unterhemd durch Lüftungsschächte robben. Superhelden kämpfen im phantasievollen und körperbetonten Dress gegen Superschurken, in deren Vergangenheit ein traumatisches Ereignis zum Wechsel auf die dunkle Seite geführt hat. Im echten Leben allerdings können die Helden und Kämpfer in gänzlich anderer Gestalt daherkommen und von einem Gegner herausgefordert werden, der gänzlich motivlos und gesichtslos den Ring betritt. Anfang der Nuller-Jahre war der Autor Hermann Borgerding weit davon entfernt, einem wie auch immer gearteten Heldenbild zu entsprechen. Als Mitherausgeber der Literatur- und Kunstzeitschrift „3D-Silbig“ zählte er in den 1990er Jahren zur regen, trinkfesten Social-Beat-Szene des Ruhrgebiets („wir waren ein undisziplinierter und versoffener Haufen“), bis ihn die Ausbildung und Tätigkeit als Krankenpfleger im ambulanten Dienst in ruhigere Fahrwasser gleiten ließ.
Es hätte der unspektakuläre Lebenslauf der gesellschaftlichen Bändigung eines jugendlich-literarischen Rebellen sein können – wenn nicht im Jahr 2007 eine ärztliche Diagnose einen im wahrsten Sinne des Wortes brutalen Einschnitt verursacht hätte. Ein längere Zeit hinausgezögerter Zahnarztbesuch markiert den Beginn einer langen Leidensgeschichte, aber auch die Festigung eines enormen Überlebenswillens: Mit der Diagnose Mundhöhlenkrebs kommt Borgerding ins Krankenhaus, nach einer mehr als dreizehnstündigen OP erwacht er ohne Zähne, Gaumen und Oberkiefer.
Im Taumel zwischen Lebensmüdigkeit und Trotz treibt es den Krüppel und Erbwerbsminderungsrentner zurück an die Tastatur, auch wenn er sich nie zur Gänze von der Literatur abgewandt hatte: „Ich glaube, wer einmal ernsthaft anfängt mit dem Schreiben, der wird nie damit aufhören. Während meiner Krankenpflegerzeit habe ich weniger geschrieben und kaum veröffentlicht. Ich etablierte mich im Job, machte Weiterbildungen als Mentor, Wundmanager, engagierte mich in der Mitarbeitervertretung und rieb mich im ambulanten Pflegedienst im wahrsten Sinne des Wortes auf. Das war größtenteils Job, kaum was Anderes. Aber noch vor dem Ausbruch meines Krebs erschien ja auch ein Split mit Roland Adelmann. Das Schreiben war immer da, es trat nur etwas in den Hintergrund.“
Eine Liebeserklärung an das Leben
Mit dem Gedichtband „Mein Mittelfinger dem Krebs“ und vor allem dem autobiographischen Roman „Ausgehöhlt“ stellt sich Borgerding dem scheinbar unbezwingbaren Gegner entgegen. „Ausgehöhlt“ ist ein schonungsloses Dokument des Krankheits- und Therapieverlaufs, vor allem aber eine unbändige Liebeserklärung an das Leben, die Literatur, die Musik und wahre Freundschaft. Borgerding gelingt es, sein Schicksal mit viel Humor und Mut machend zu erzählen. Weder seine Ärzte noch er selbst hätten 2011, als Gedichtband und Roman erstmals veröffentlicht wurden, damit gerechnet, dass Hermann Borgerding noch heute seine Stimme erheben und gegen den Krebs anschreiben kann. „Nach meiner lebensverändernden Krebsdiagnose und Operation war ich nicht mehr in der Lage als Krankenpfleger zu arbeiten“ schildert Borgerding, „und hatte plötzlich eine prophezeite Lebenserwartung unter fünf Jahren. Wenn meine Schmerzen es zuließen, schrieb ich mir alles von der Seele. So entstanden viele Gedichte und hunderte Seiten, die ich zu einem ‚Roman‘ zusammenfasste. Der Gedichtband verkaufte sich erstaunlich gut und erscheint jetzt wegen weiterer Nachfragen in einer Neuauflage. Der Roman ‚Ausgehöhlt‘ ist für mich sowas wie meine Diplomarbeit. Danach war mir klar, irgendwie kann ich schreiben.
Also entschied ich mich, dies als meine Profession zu wählen.“
Borgerding bloggt seitdem sehr regelmäßig über Fortschritte und Rückschläge, über weitere Operationen, Diagnosen und Erwartungen – aber auch über Musik, neue Bücher, Politik. Stets sehr persönlich, sehr offen, sehr direkt, wie damals die Zigaretten ungefiltert. Und weitere Lyrikbände sind erschienen. Sicherlich ist die Ausrichtung seines Schreibens von der Krankheit geprägt, aber Hermann Borgerding stellt klar: „Ohne meinen Krebs hätte ich anders geschrieben, auch anders gelebt. Ich war ja damals auch Sänger und Gitarrist, all das ging dann nicht mehr. Und ich hätte mehr Lesungen gemacht, demnach wären vielleicht auch Texte für direkte Publikumsreaktion entstanden. Und natürlich hätte ich mich weiter in der Pflege abgearbeitet und vielleicht darüber geschrieben. Aber Schreiben: Wer einmal vom Virus befallen ist, der kann nicht aufhören. Und natürlich will man dann auch ein Publikum, wie auch immer…“
Kein Bukowski-Epigone
Sich jahrelang literarisch an der eigenen Krankheit aufzureiben – reizt es da nicht auch einmal, sich an rein fiktive Stoffe zu wagen? „Ich denke, jeder Mensch hat seine Geschichten, die es wert sind, gehört oder gelesen zu werden. Auch da mischt sich schon Fiktion ein, sei es, allein in der durchgängigen Anordnung oder Veränderung des Erlebten. Rein fiktionale Texte probiere ich immer wieder, habe zum Beispiel einen Krimi geschrieben, den ich aber in meiner Schublade verwahre. Bei fiktionalen Texten muss ich mehr konstruieren und in dem Punkt bin ich zugegebenermaßen faul“, gibt Borgerding unumwunden zu, ist sich andererseits aber sicher: „Außerdem gelten meine Authentizität, meine Offenheit und meine Ehrlichkeit bei meinen Lesern auch als meine Markenzeichen.“
Die hohen Maßstäbe, die er selbst an fiktionale Texte anlegen würde, konnte er in seinen eigenen Augen hingegen bislang nicht erreichen. So wundert es auch nicht, dass er auf die Frage nach literarischen Vorbildern seiner Anfangszeit mit Wolf Wondratschek, Peter Paul Zahl und Ludwig Fels Autoren nennt, deren Werke oft autobiographische Ansätze haben. „Ich habe aber auch immer die amerikanische Literatur geliebt, gerade wegen ihrer angeblichen Einfachheit der Sprache“, fügt er hinzu, „John Steinbeck, Richard Brautigan, Allen Ginsberg und – so peinlich es sein mag, ihn als ‚Vorbild‘ zu bezeichnen – Charles Bukowski.“ Allerdings stellt er vehement eines klar: „Ich habe aber versucht, nicht zu kopieren und werde immer noch sauer, wenn ich mit Bukowski in Verbindung gebracht werde oder gar als Bukowski-Epigone (und davon gibt es ja viele ganz fürchterliche…) bezeichnet werde.“ Die Klassiker Hölderlin, Heine, Hesse, Brecht oder Fallada finden sich in seiner aktuelleren Leseliste, aktuell aber auch ich sehr viel deutsche Lyrik. Und da am liebsten die unbekannten Perlen – auch des Underground: „Ich könnte viele aktuelle DichterInnen nennen, Luetfiye Güzel und Urs Böke stehen in dieser Antwort stellvertretend für mindestens 20 Dichtende.“
Pearl Jam und VfL
Seit einigen Jahren wohnt Hermann Borgerding im tiefsten Münsterland nah an der niederländischen Grenze, und sein Verhältnis zur Heimat ist zwiespältig: „Ich war jetzt drei Tage in Castrop-Rauxel. Nach fünf Jahren tiefster Münsterlandprovinz erscheint es mir laut, schmutzig und irgendwo verfallen. Aber es ist trotzdem ehrlicher und offener als unser sauberes Münsterland.“
Hermann Borgerding hat trotz seiner Krankheit nie aufgehört, Pläne zu schmieden, an die Zukunft zu glauben. Im Jahr 2010 hat er geheiratet, wenn es seine Verfassung zulässt, besuchen die beiden Konzerte, machen Urlaub, pflegen den gemeinsamen großen Freundeskreis. Für 2020 hofft er auf Tickets für die Tour von Pearl Jam, einer Band, die bislang noch auf seiner Konzertliste fehlt. Was allerdings auch den härtesten Kämpfer und optimistischsten Charakter verzweifeln lässt, ist der Fußballverein seiner früheren Wahlheimat: „Ich bin seit über vierzig Jahren Fan vom VfL Bochum. Niederlagen, Abstiege und Perspektivlosigkeit können mich kaum noch schocken. Passt schon. Auch in meinem Leben. Nur die Lethargie der letzten Jahre, die steigert schon meine Depressionen und da will ich irgendwann nicht mehr mitspielen.“ Bleibt zu hoffen, dass der Verein mal wieder den Arsch hochkriegt und sich an der Kämpfernatur von Hermann Borgerding ein Beispiel nimmt. Schließlich möchte man ein Zitat wie „Ich habe fünf Abstiege des VfL Bochum überlebt, da lasse ich mich doch nicht vom Krebs besiegen!“ („Ausgehöhlt“, Auflage 2011) nicht mit jeder Neuauflage des Buches mit einer neuen redaktionellen Anmerkung korrigieren…
Hermann Borgerding: Ausgehöhlt | Gonzo Verlag | 170 S. | 12 €
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