Haiko Pfost ist der neue künstlerische Leiter des Impulse Festivals des NRW Kultursekretariats. Vom 13. bis 24. Juni wird der Ringlokschuppen in Mülheim zum Festivalzentrum, die Aufführungen der zehn ausgewählten Beiträge aus der freien Theaterszene werden im Ruhrgebiet stattfinden.
Die Grenzen zwischen den Genres sind schon länger in Auflösung begriffen. Vor allem in der freien Szene sind Theater und Tanz nicht mehr so klar zu trennen wie an Mehrspartenhäusern. Es fällt im Programm für diese Impulse auf, dass Stücke ausgewählt wurden, in denen Körperlichkeit knallhart verhandelt wird. Zunächst wäre da das Stück „Apollon“ (15./16.6.) von Florentina Holzinger, in dem sie sich mit fünf weiteren Performerinnen dem Thema der Freakshow widmet. Sie stellen Bezüge zum neoklassischen Ballett her, in dem körperliches Können häufig im Vordergrund steht und keine romantischen Geschichten erzählt werden. Auch die Performanceart der 60er und 70er Jahre wird einebzogen, Künstler*innen testeten damals ihre körperlichen Grenzen und die Grenzen ihres Publikums aus. Holzinger und ihre Kolleginnen zeigen radikale Körperbilder, erkunden Körperpraktiken, die ihnen und dem Publikum viel abverlangen. Ein weiteres Stück im Programm heißt „Consumption As a Cause of Coming Into Being“ (20./22.6.), es wurde von Konzeptkünstler Roland Rauschmeier und Performer Alex Bailey erarbeitet. Darin setzen sie sich mit Konzepten von Männlichkeit auseinander, auch mit dem männlichen Geschlechtsteil an sich. Wie können Männer jenseits von vorgeprägten Rollenbildern eine Beziehung zu sich selbst und ihrer Umwelt aufbauen? Sie untersuchen Sadomaso-Bindungen und die Geschichte des Kannibalen von Rotenburg, der einen Mann verspeiste.
Auffällig ist, dass einige Stücke in experimenteller Tradition das Publikum zum Bestandteil ihrer Aufführung machen. Zum Beispiel She She Pop aus Berlin, die sich in „Oratorium“ (14./15.6.) fragen, wie Grenzen zwischen Menschen entstehen. Was hat unser Besitz damit zu tun? Wie erlangen wir Macht, wie landen wir in Armut? Hier verhandelt das Publikum durch den Einsatz in Sprechchören mit. „The Automated Sniper“ (19./20.6.) begreift sich als Kommentar zur modernen Kriegsführung und bringt einen Ego-Shooter live auf die Theaterbühne. Das Publikum bedient die Joysticks. In „Enjoy Racism“ (21.-23.6.) wird das Publikum aufgeteilt und erfährt Diskriminierung oder Bevorzugung am eigenen Leib. Die Stücke, die das Publikum nicht direkt einbeziehen, überschreiten dennoch Grenzen: „Pink Money“ (13./16.6.) widmet sich den Geldern, die durch Sextourismus in der LGBTIQ-Gemeinde fließen, und „All Eyes On“ (21./23.6.) lässt das Publikum Zeuge von Sexchats werden. Das Programm ist konfrontierend, doch es gibt ein Stück mit komplett gegensätzlichem Fokus: Das Stück „Guardians of Sleep“ (22./23.6.) lässt das Publikum zunächst der Überforderung begegnen, der wir tagtäglich ausgesetzt sind, um dann in der gemeinsamen Entspannung zu münden. Ganz ohne Bilder, Geschichten und Lautstärke. Eine Situation, der wir in Gesellschaft selten begegnen.
Impulse Theaterfestival: Showcase | 13. - 24.6. | Ringlokschuppen, Mülheim an der Ruhr | www.impulsefestival.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Indigener Widerstand
„Encantado“ auf PACT Zollverein – Tanz an der Ruhr 08/22
Versprechen auf die Zukunft
„tanz.tausch“ an diversen Orten in Köln – Tanz in NRW 08/22
Gegen die Normalität
„Hundertpro Festival“ im Ringlokschuppen Ruhr – Festival 08/22
Gar nicht still
Silent University des Ringlokschuppen
Frischer Wind
Sommerakademie der TanzFaktur in Köln – Tanz in NRW 07/22
Existenzieller Spagat
Cooperativa Maura Morales beim asphalt Festival Düsseldorf – Tanz an der Ruhr 07/22
Botswana statt Ballett
„The Sacrifice (Das Opfer)“ in Recklinghausen – Tanz an der Ruhr 06/22
Verletzlich und stark zugleich
Circus Dance Festival in Köln – Tanz in NRW 06/22
Eine Sprache für das Begehren
14. SoloDuo Tanzfestival im Barnes Crossing – Tanz in NRW 05/22
Gesellschaftlicher Drahtseilakt
„tipping points“im Ringlokschuppen Ruhr – Tanz an der Ruhr 04/22
In gläsernen Zellen
„absence#1.2 – AntiKörper“ im Barnes Crossing – Tanz in NRW 04/22
Barnes Crossing lebt
Kölner Choreographinnen-Netzwerk – Tanz in NRW 03/22
Sterbt, aber tanzt
„Dances of Death“ auf PACT Zollverein – Tanz an der Ruhr 03/22
Doch kein Don Quijote
Slava Gepner und die TanzFaktur im Jahr 2021 – Tanz in NRW 02/22
Morbider Mozart-Mythos
Choreographen-Duo interpretiert die Totenmesse – Tanz an der Ruhr 01/22
Die Realität des Körpers
Doris Uhlich zeigt Nacktheit als Selbstbestimmung – Tanz in NRW 01/22
Wie werden Frauen gelesen?
Riebesam experimentiert mit der Sprache des Tanzes – Tanz am Rhein 12/21
Denken mit dem Knie
„A Universal Opinion” in der TanzFaktur – Tanz in NRW 11/21
Fremde Körper
CocoonDance dekonstruieren den Standardtanz – Tanz an der Ruhr 11/21
Ballettwunder trifft Patriarchat
Tanz-Adaption einer umstrittenen Shakespeare-Komödie – Tanz am Rhein 11/21
Das Ringen mit dem Bild
Mira 10 zeigt weibliche Ikonen – Tanz am Rhein 10/21
Der Körper weiß mehr
Die Metabolisten zeigen, wie der Körper denkt – Tanz am Rhein 09/21
Jenseits der Vergänglichkeit
„Cascade“ von Meg Stuart auf PACT Zollverein – Tanz an der Ruhr 09/21