Zunächst wurde es nur vermutet, aber nun bestätigen Fotografien aus dem All, dass der Golfstrom, die natürliche Heizung der Küstenlandschaften Nordeuropas, versiegen könnte. Schon unsere Kinder, aber sicherlich unsere Enkel können sich auf Mega-Überschwemmungen und ein Leben in frostigen Landschaften gefasst machen. Schon einmal hat es „Die Welt aus den Angeln“ gehoben, so der Titel einer Geschichte der Kleinen Eiszeit des Gelehrten Philipp Blom, der mit seinen beiden historischen Betrachtungen „Der taumelnde Kontinent“ und „Die zerrissenen Jahre“ neue Perspektiven und damit neue Deutungsversuche auf die Weltkriege des 20. Jahrhunderts eröffnete. Aus den Angeln hat es Europa in den Jahren zwischen 1570 und 1700 aus zwei Gründen gehoben. Lange, kalte Winter und kurze, feuchte Sommer führten zu einer beispiellosen landwirtschaftlichen Katastrophe vom Nordkap bis Sizilien. Hunger und Gewalt verwüsteten Europa in diesen 130 Jahren nachhaltig.
Zugleich stellt diese Epoche, in der Italien in der politischen Bedeutungslosigkeit versank, Spanien seinen Reichtum vergeudete, Mitteleuropa Hexenverbrennungen zelebrierte und die Niederlande eine ungeahnte wirtschaftliche, soziale und künstlerische Blütezeit erlebten, die Weichen für jenes Europa, das uns heute beheimatet. Die Niederlande haben es vorgemacht, mit internationalem Handel und Religionsfreiheit zündet das Bürgertum die Erfolgsgeschichte des Kapitalismus und der Demokratie. Die Wissenschaften entwickeln sich sprunghaft und Europa verabschiedet sich vom Glauben an einen göttlichen Weltenlenker. Philipp Blom ist Historiker, und als solcher erzählt er uns von der Realität der Winterlandschaften, die sich gemalt so idyllisch und in Wirklichkeit so mörderisch ausnehmen. Aber er ist auch Philosoph und zeichnet das Bild eines aufgeklärten Europa, in dem die Menschenrechte postuliert werden und das im selben Moment den Kolonialismus ankurbelt. Bürgerliche Freiheit und Wohlstand wollen bezahlt werden, das Ergebnis ist eine weltweite Zweiklassengesellschaft. Diesen ethischen Antagonismus ist Europa bis zum heutigen Tage nicht losgeworden.
Blom zieht die Verbindungslinie zwischen dem 17. Jahrhundert und der Gegenwart, in der das Wissen um die Gefahren für die Zukunft des Planeten vorhanden ist. Aber das Bürgertum, das aus einer Klimakatastrophe geboren wurde, erstarrt, wenn es gilt, die nächste zu verhindern. Es gelingt Blom, die Widersprüche unserer gesellschaftlichen Realität hellsichtig aus der Historie herzuleiten. Ihm an die Seite ist Wolfgang Behrigers ebenso wunderbar gelungene Untersuchung über das verregnete Jahr 1816 mit dem Titel „Tambora und das Jahr ohne Sommer“ zu stellen. Behringer zeigt, wie die Moderne in Technik und Wissenschaft, aber auch mit ihren Auswanderungsströmen und einem lodernden Antisemitismus aus einem klimatischen Debakel hervorgingen. Als Leser dieser großartigen Sachbücher empfindet man Respekt vor der kulturbildenden Kraft klimatischer Tatsachen, deren Folgen jedoch viel zu zögerlich Eingang in die Geschichtsschreibung finden.
Philipp Blom: Die Welt aus den Angeln | Hanser | 302 S. | 24 €
Wolfgang Behringer: Tambora und das Jahr ohne Sommer | C.H.Beck | 398 S. | 24,95 €
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