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Jana Scheerer
Foto: Maximilian Merz

Vom Schlick verschluckt

15. Oktober 2020

Jana Scheerer unternimmt literarische Wattwanderung durch die Psyche – Literaturportrait 10/20

Zehn Jahre ist es her, da haben wir die 1978 in Bochum geborene Autorin Jana Scheerer bereits vorgestellt. Damals schickte sie in einem furiosen literarischen Roadmovie eine jugendliche Heldin auf den Spuren des King nach Graceland. Obwohl der Roman von der Autorin eigentlich nicht als Jugendbuch gedacht war, wurde er vom Verlag so vermarktet und u.a. mit dem Luchs-Jugendbuchpreis ausgezeichnet. In den Jahren darauf hat sie sich zunächst dem Kinder- und Jugendbuchsektor zugewandt – doch mit ihrem neuen Roman „Das Meer in meinem Zimmer“ legt sie nun einen sehr erwachsenen und reifen Roman vor: Ein Familienvater stirbt und die verbliebenen Familienmitglieder suchen nach ganz eigenen Wegen, mit diesem Verlust umzugehen. Zu Lebzeiten treibt den Vater eine krankhafte Obsession zu einem im Wattenmeer gestrandeten Schiffswrack, das zu unregelmäßigen Zeiten wie ein Geisterschiff aus dem Watt auftaucht. Das gesamte Familienleben hat sich dieser fixen Idee untergeordnet. Das Buch ist gespickt mit maritimen Motiven und Metaphern. Ein Roman voller Schlick, Untiefen und Irrlichtern. Mit wogenden Wellen und stetigem Gezeitenwechsel. Aber auch voller Wärme, Liebe und leisem Humor.

Das Wrack unter der Oberfläche

Schon in Jana Scheerers ersten beiden Büchern waren die Väter eher disparate Charaktere. Pax, der Vater im aktuellen Roman, ist ein stark ins Extreme kippender Fall. Was war zuerst da: Die Familienkonstellation oder die Konnotationen zum Wattenmeer und seiner prallen Metaphernfülle?„Zuerst war die Familienkonstellation da“, erzählt die Autorin: „Ich habe lange nach einem Setting gesucht, in dem ich das gut erzählen kann. Allerdings ist mir an dem Buch eigentlich wichtiger als die Rückblenden die Situation auf der Gegenwartsebene, der Moment direkt nach dem Tod eines Familienmitgliedes. Auch dafür fand ich das Setting Wattenmeer passend. Meine Erfahrung ist, dass der Tod in unserer Gesellschaft stark tabuisiert ist, obwohl er uns alle betrifft – er ist immer da, wird aber unter der Decke gehalten, so wie das Wrack immer im Watt liegt und dann von Zeit zu Zeit hochkommt.“

Dieses Wrack – woher stammt die Idee zu diesem Motiv?

Jana Scheerer erläutert, dass es hierfür ein reales Vorbild gibt: „Das war die Ulpiano, eine spanische Bark, die an Heiligabend 1870 auf den Süderoogsand aufgelaufen ist. Die Mannschaft wurde von den Halligleuten der Hallig Süderoog gerettet und hat dann mit ihnen Weihnachten gefeiert – eine wirklich schöne Geschichte. Danach konnte der Sohn der Halligleute auf der Gitarre Flamenco spielen, ein Besatzungsmitglied hatte es ihm beigebracht. Die Mannschaft musste nämlich noch einige Zeit auf der Hallig bleiben, weil wegen Schnee und Eis kein Fortkommen war. 2018 kam das Wrack noch mal hoch. Leider konnte ich es nicht besichtigen, weil es in der Wattenmeerschutzzone 1 liegt. Aber ich habe Wattwanderungen um Süderoog gemacht, um ein Gefühl für das Gelände zu bekommen. Die Geschichte der Ulpiano hat deshalb besonders gut gepasst für die Geschichte, die ich erzählen will, weil sie ein Missverständnis zwischen Tochter und Vater möglich macht: Jolanda denkt, der Vater suche wegen der Rettungsgeschichte nach dem Wrack – sie glaubt und hofft, dass er nach Rettung sucht. Den Vater fasziniert an dem Wrack jedoch die Ausnahmesituation des Sturms, wegen dem das Schiff auf den Sand auflief.“ Ein solcher Sturm wütet auch im Kopf des Mannes, der schubweise nicht mehr in der Lage ist, die eigene Familie wahrzunehmen, der bipolar in Sekundenschnelle zwischen Fürsorge und Jähzorn wechseln kann, der eine Pension auf einer Hallig kauft, allein um dem Wrack nahe zu sein – denn die Pension wird nie Gäste sehen. Regelmäßig fährt Pax zu Schatzsucherkongressen – und im Gegensatz zum Leser benötigt die Ich-Erzählerin einige Jahre für die Erkenntnis, dass dies nur eine Umschreibung für stationäre Psychiatrie-Aufenthalte war.

Doch auch die Mutter, die als Paartherapeutin eigentlich das Rüstzeug hätte, die Familie zusammenzuhalten, scheitert an Pax. Diese Figur des psychologisch geschulten Menschen, der sich im Alltag als hilflos erweist, findet sich auch schon in den früheren Büchern Scheerers: „Da steckt tatsächlich eine Lebenserfahrung von mir drin, nämlich dass Leute in helfenden Berufen manchmal vergessen, auch sich selbst zu helfen. Der professionelle Blick ist unter Umständen vor allem nach außen gerichtet und es kommt gar nicht der Gedanke auf, dass auch im eigenen Leben etwas problematisch sein könnte bzw. man selbst auch jemand sein könnte, der Hilfe braucht. Ich will das aber auf keinen Fall verallgemeinern, das ist ja nur eine Beobachtung von mir, die ich aber interessant für die Figurengestaltung finde – daher wohl auch das mehrfache Auftauchen dieser Konstellation in meinen Büchern.“

Im Lockdown der Kultur

A propos Auftauchen: Ähnlich wie das Wrack im Wattenmeer ist das kulturelle, das literarische Leben durch Corona kaum sichtbar. Äußerst zaghaft kommen wieder Veranstaltungen an die Oberfläche und selbst die schweren Tanker der großen Buchmessen navigieren unsicher. Wie hat die Autorin den Lockdown der Kulturszene erlebt? „Tatsächlich habe ich durch Corona deutlich weniger Lesungen mit dem neuen Buch, was ich sehr schade finde. Für mich als Schriftstellerin sind die Corona-Beschränkungen aber natürlich trotzdem deutlich weniger einschneidend als für Musiker*innen oder Schauspieler*innen. In gewisser Weise hat mich die Situation im März und April übrigens an die Situation erinnert, die ich in ‚Das Meer in meinem Zimmer‘ beschreibe: Das Leben kam im März und April – so wie für die Familie im Buch – für viele Leute plötzlich zum Stillstand, es war, wie vor eine Wand zu fahren. Der Unterschied ist nur, dass in meinem Buch die Familie das isoliert erlebt; sie passt durch diese Erfahrung nicht mehr so richtig in die ‚normale‘ Welt. Das war im März und April anders, wir alle waren in einer Ausnahmesituation, wenn auch natürlich auf unterschiedliche Weise, je nach Beruf, Risikogruppe, Wohnsituation usw. Interessant (und gut) fand ich übrigens, dass in dieser Zeit sehr viel öffentlich über Krankheit und Tod gesprochen wurde, was meines Erachtens sonst viel zu kurz kommt.“

Ruhrgebiet und Kinderkrimis

Jana Scheerer hofft nun darauf, dass sich im Herbst noch Lesungstermine finden, gerne auch im Ruhrgebiet, wo sich die Wahlberlinerin erklärtermaßen immer noch besonders wohl fühlt: „Ich habe leider überhaupt keine Kontakte mehr in die alte Heimat, sehr schade! Aber wenn ich in Westfalen bzw. im Ruhrgebiet bin, fallen mir sofort die Gelassenheit und der Humor der Leute auf. Alles ist viel entspannter als anderswo, man lässt den anderen leben. Es werden nicht immer gleich die Ellenbogen ausgefahren und herumgeschimpft.“

Zurzeit steht die Fertigstellung des dritten Bandes ihrer Kinderkrimi-Reihe „Aus den Akten der Detektei Donnerschlag“ auf dem Plan. „Die Kinderkrimis sind für mich eine Art Erholung von schwereren Themen“, schmunzelt Scheerer, „toll an dem Genre finde ich, dass es Kinder meistens als Handelnde zeigt, die falsches (zumeist kriminelles) Verhalten von Erwachsenen aufdecken. Im Kinderkrimi haben Kinder also viel mehr Handlungsspielraum als üblicherweise in der Realität. Und außerdem kann ich darin meine Vorliebe für die Drei ???, Nick Knatterton und Philip Marlowe ausleben.“ Und mit Begeisterung fügt sie noch hinzu: „Der erste Band ist soeben als Hörbuch erschienen, genial gelesen von Nils Kretschmer.“

Jana Scheerer: Das Meer in meinem Zimmer | Schöffling & Co | 256 S. | 22 € | www.jana-scheerer.de

Frank Schorneck

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