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Hannes Köhler signiert
Foto: Frank Schorneck

Spurensuche in Essen

03. September 2018

Hannes Köhler stellte seinen Roman „Ein mögliches Leben“ bei Proust in Essen persönlich vor – Literatur 09/18

Es ist drückend an diesem Mittwoch-Abend. Das Thermometer zeigt 28 Grad an und der einsetzende Regen sorgt weniger für Abkühlung als für klebrige Schwüle. Dennoch haben sich über 50 Zuschauerinnen und Zuschauer in der Essener Buchhandlung Proust eingefunden und füllen die Plätze bis in die hinterste Nische. Um das Klima einigermaßen erträglich zu halten, bleibt an diesem Abend die Tür zur Straße geöffnet. Buchhändlerin Beate Scherzer verspricht jedoch, dass mit dem Preisgeld des Deutschen Buchhandlungspreises in eine Belüftungsanlage investiert werde. Proust Wörter + Töne ist bereits im vierten Jahr in Folge nominiert und hat damit einen dritten Preis bereits sicher. Auch heute soll sich wieder zeigen, dass diese Buchhandlung sich abhebt von so manch anderer. Hier erhält auch eine Lesung eine ganz persönliche Note, hier stellt nicht bloß der Buchhändler kurz in einem biographischen Abriss den Autor vor, um sich dann in den Hintergrund zu verabschieden: Beate Scherzer nimmt gemeinsam mit Hannes Köhler am Lesetisch Platz und moderiert im lockeren Gespräch mit dem Gast.

Im ersten Lesungsabschnitt führt Köhler nach Texas, wo Enkel und Großvater ihre Spurensuche beginnen und in die Vergangenheit des alten Mannes, seine Zeit im Kriegsgefangenenlager, abtauchen. Den schweißnasse Rücken Martins, die von seiner Stirn perlenden Tröpfchen kann das Publikum besonders realistisch nachempfinden. Doch nicht nur das Mikroklima in der Buchhandlung, auch die angenehme Lesestimme des Autors nimmt den Zuhörer mit auf diese Reise.

Nach der Lesepassage plaudern beide über die Bezüge des Romans zur Stadt Essen. Scherzer erzählt, dass sie in einer der im Buch beschriebenen Straßen in Katernberg wohnt, die Hausnummer 100 jedoch nicht habe finden können. Köhler fühlt sich ertappt („Ich konnte ja nicht ahnen, dass das jemand zu Fuß recherchieren kann…“), erläutert jedoch, dass er sehr bewusst keine realen Adressen verwendet habe, soweit sie nicht von historischer Bedeutung sind. Es sind gar nicht unbedingt rechtliche Bedenken, die ihn davon abhielten: „Ich hielte das für unhöflich gegenüber den Bewohnern eines Hauses, wenn man es ungefragt in einen Roman einbaute.“ Dass er – von Haus aus Historiker – ansonsten sehr sorgfältig mit Daten und Fakten umgeht, stellt er im Anschluss unter Beweis, als er die vorgelesene Szene aus dem Gefangenenlager mit den Ergebnissen seiner Recherchereise untermauert und auch auf Fragen aus dem Publikum ad hoc und eloquent antwortet. Scherzer wiederum zeigt sich als gut zuhörende Moderatorin, indem sie mit der Frage „Wer ist Paul?“ darauf aufmerksam macht, dass eine der handelnden Figuren noch nicht eingeführt wurde.

In weiteren Textauszügen führt Köhler auf die Baumwollfelder der Südstaaten, wo die Kriegsgefangenen zur Arbeit verpflichtet werden und wo ganz nebenbei im Umgang des Farmers mit den schwarzen Arbeitern der latente amerikanische Rassismus ein Gesicht erhält. Eine Szene, in der die Kriegsgefangenen ihren bis zur Bewusstlosigkeit betrunkenen Bewacher auf die Ladefläche des LKW laden, die Situation aber nicht zur Flucht nutzen, sondern zum Lager zurückfahren, sorgt für Lacher. Zum Schluss stellt Köhler noch die Figur der Barbara vor, die als Tochter und Mutter die Zwischengeneration zwischen Franz und Martin verkörpert. Barbara, die als Kind zum Nazi-Jäger aufschaut und doch später in Konflikt mit der Vaterfigur gerät, als der Vietnamkrieg sie auf Anti-Amerika-Demos treibt. Die gelesene Passage endet mit dem Satz „Ein Bier würde ihr guttun.“

Angesichts dieses schönen Schlusssatzes hält Beate Scherzer die Abmoderation kurz. Sie verweist darauf, dass Köhler in den Danksagungen seiner beiden Romane Autoren wie Ulrike Draesner oder Ulrich Peltzer bedenkt, die auch vom Proust-Team geschätzt werden. Da ist man neugierig, was der Autor zurzeit gerade liest. „Bakunin“, antwortet Köhler, denn für seinen nächsten Roman beschäftige er sich mit Anarchismus. Gleichzeitig allerdings liest er auch das Buch eines Freundes: „Wie man Baske wird“ von Ibon Zubiaur.

Noch während Beate Scherzer verspricht, dass auch der Bakunin-Roman wieder in Essen vorgestellt wird, bildet sich bereits eine lange Schlange zum Signieren der Bücher.

Frank Schorneck

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