Zum Zwanzigjährigen gibt es einen selbstreflexiven Moment: Der Dokumentarfilm „66 Kinos“ blickt auf den Status quo der Kinobranche in Deutschland. Regisseur Philipp Hartmann hat seine Kinotour mit dem Film „Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe“, der 2014 beim Dokumentarfilmfestival Stranger than Fiction zu sehen war, genutzt, um an den 66 Spielstätten einen Überblick über die hiesige Lage zu gewinnen. Das ist doch toll: Man sitzt nicht nur im Kino, sondern reflektiert auch noch das Kino! Aber eigentlich geht bei Stranger than Fiction der Blick weit über das Kino hinaus. In die große Welt blicken die hier gezeigten Filme und – da verspricht der Festivaltitel nicht zu viel – auf die verrücktesten Geschichten.
Dazu gehören natürlich auch die Geschichten von Prominenten: So wird die Dokumentation „Anne Clark – I‘ll Walk Out Into Tomorrow“ das Festival am 26. Januar eröffnen. Anne Clark kennen die Meisten sicher als Sängerin der elektronischen New-Wave-Hits „Sleeper in Metropolis“, „Our Darkness“ oder „Wallies“. Die Dokumentation von Claus Withopf blickt auf Clark als Spoken-Word-Künstlerin, die bis heute mit ihren Texten kritisch Position bezieht. Sie wird zur Premiere nach Köln anreisen. Nein, auch wenn das toll wäre: Grace Jones wird nicht kommen! Auch der Weltstar ist auf dem Festival mit einer Dokumentation vertreten: Sophie Fiennes versammelt in „Grace Jones: Bloodlight and Bami“ kein Archivmaterial, sondern bleibt in der Gegenwart und zeigt die Ikone auf der Bühne und privat. Nicht ganz so glamourös ist das Leben des Jazzpianisten, das „The Ballad of Fred Hersch“ erforscht. Berührend ist der Film über den HIV-positiven Musiker allemal. Und die Doku „Whatever Happened to Gelitin“ erforscht mit viel Witz den Verbleib der spektakulären österreichischen Künstlergruppe Gelitin.
Aber man muss nicht unbedingt berühmt sein, um ins Kino zu kommen. Das Festival zeigt auch einen meditativen Film über zwei Freundinnen, die vor einem Wendepunkt in ihrem Leben am Strand spazieren und miteinander reden („Drift“ von Helena Wittmann). Oder über einen Vater eines behinderten Kindes, der in der gehobenen Münchner Mittelschicht als Hochstapler ein Kinderhaus ausnimmt („Betrug“ von David Spaeth). Oder einen Regisseur, der das Leben seines Vaters erforscht und dessen Geheimdiensttätigkeit in der chilenischen Diktatur, nach der er in die DDR geflohen ist („El color del camaleón). So wie hier bringen die Dokumentationen so manchen ins Scheinwerfer- bzw. Projektorenlicht, der lieber im Dunklen bliebe. Oder die niemand beachtet, wie die 17-jährige Daje, schwarz, weiblich und in Missouri abgehängt von allem („For Ahkeem“). In den Medien wird ihnen viel Beachtung geschenkt, selten aber in einer solchen Tiefe: Das Flüchtlingsthema wird in „Exodus“ und „Als Paul über das Meer kam“ unkonventionell aufgegriffen. Letzterer läuft in der NRW-Reihe und ist mit einem Werkstattgespräch verbunden. Mit der Reihe Dokumentarfilme aus NRW verortet sich das Festival regional: Mehrere in NRW realisierte Langdokumentationen und ein Kurzfilmprogramm werden präsentiert. Darunter ist auch „Offene Wunde deutscher Film“, eine Dokumentation über den Mangel an Genrefilmen in der deutschen Filmlandschaft. Und da ist er dann wieder, dieser selbstreflexive Moment...
Stranger than Fiction | 26.1. - 4.2. | Köln, Bochum, Brühl, Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Essen, Mülheim und Münster | www.strangerthanfiction-nrw.de
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