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Nach dem Film blieben viele Zuschauer zur anschließenden Diskussion.
Foto: © Planerladen e.V., Dortmund

Ein Anfang im Kino: Filmvorführung und Diskussion im sweetSixteen

28. Juli 2011

„Im Ghetto. Die Roma von Stolipinowo“ im sweetSixteen Dortmund - Foyer 08/11

Am Abend des 18. Juli durften Besucher des sweetSixteen in der Dortmunder Immermannstraße einer bemerkenswerten Veranstaltung beiwohnen. Der Planerladen e. V. – eine Integrationsagentur zur Förderung demokratischen Stadtplanung – und das Kino im Depot hatten gemeinsam zu einer Vorführung des Dokumentarfilms „Im Ghetto. Die Roma von Stolipinowo“ (A 2008, 75 min.) mit anschließender Diskussion eingeladen. Angesichts der aufgeregten Debatte um den Zuzug von Menschen aus Südosteuropa in die Dortmunder Nordstadt und einer meist einseitigen und teils fragwürdigen medialen Berichterstattung über „Ekelhäuser“, prekäres Wohnen und die Bedrohungen einer ungezügelten Zuwanderung, gelang den OrganisatorInnen hier ein mehr als überfälliger Blickwechsel*: Das Kino wurde vom Bild- zum Begegnungsraum, der Film zur Folie für einen Austausch auf Augenhöhe und den Versuch, die Mauer aus Vorurteilen und Misstrauen zu durchbrechen.

„Im Ghetto“ widmet sich den Lebensbedingungen der Roma von Stolipinowo, ein Stadtteil von Plowdiw im Süden Bulgariens und mit rund 40.000 EinwohnerInnen eine der größten Roma-Siedlungen Südosteuropas. Die Regisseure Hermann Peseckas und Andreas Kraus suchen den direkten Kontakt zu den Menschen, die hier leben. Sie sprechen mit ihnen über ihren Alltag, über die Entbehrungen, die sie zu verkraften haben, über die Erfahrung von Armut, Ausgrenzung und Diskriminierung. Mit dem Zusammenbruch des Sozialismus wurde auch das vermeintliche Gleichheits-versprechen aufgelöst, das die Roma zeitweise in relativer Gleichberechtigung leben ließ. Jahrhundertealte Vorurteile und Rassismen kamen zum Vorschein, die meisten verloren im Zuge der privatwirtschaftlichen Umstrukturierung ihre Arbeit und leben seitdem von der Hand in den Mund. Eine totale gesellschaftliche Isolation war die Folge. Der Staat hat sich weitestgehend aus der Verantwortung gezogen, es fehlt nicht nur an einer infrastrukturellen Grundversorgung des Viertels und an Wohnraum, sondern auch an sozialen und medizinischen Einrichtungen, an Bildungsangeboten und beruflichen Perspektiven. Trotz einiger Selbsthilfe-Initiativen und ersten Bemühungen einer Reintegration ist die Gesamtlage nach wie vor desaströs.

Aus diesem Elend flüchteten seit der zweiten EU-Osterweiterung im Jahr 2007 viele nach Deutschland. Auch in die Dortmunder Nordstadt, wo sie heute für vielfältige und komplexe Problemlagen verantwortlich gemacht werden – Kriminalität, Prostitution, Verwahrlosung von Straßenzügen usw. Dass der Diskussionsbedarf daher groß sein würde, damit ließ sich im Vorfeld rechnen. Auf dem Podium waren neben dem Drehbuchautor und Regisseur Andreas Kraus und Orhan Jasarovski vom Landesverband der Deutschen Sinti und Roma NRW mit Tülin Kabis-Staubach von Planerladen e.V. und Rainer Stücker vom Mieterverein Dortmund und Umgebung e.V. zwei Akteure vertreten, die die Entwicklung in der Dortmunder Nordstadt seit langem begleiten. Aber das Gespräch, durch das Bastian Bütter von BODO e. V. führte, ging dank der Anwesenheit von einigen Dutzend Zuwanderern aus Bulgarien weit über das übliche Filmgespräch hinaus.

Was der Film schon deutlich gemacht hatte, wurde in der Diskussion bestätigt: die Roma gibt es nicht. Es handelt sich vielmehr um eine äußerst heterogene Gruppe mit verschiedenen Zugehörigkeitsgefühlen sowie unterschiedlichen religiösen Ritualen und sozialen Kulturen. Trotzdem braucht es Orhan Jasarovski zufolge eine Politik der Gemeinsamkeit, um sich gegen Vorurteile und Diskriminierung zu wenden und für gegenseitiges Verständnis zu werben.

Dass und in welcher Form sie auch in Dortmund stigmatisiert werden, davon berichteten die anwesenden Betroffenen mit großer Eindringlichkeit. Abgesehen von dem enormen ökonomischen Druck, unter dem sie stehen, der schlechten Wohnverhältnisse und unzureichenden Betreuungssituation haben sie nicht nur ständige polizeiliche Kontrollen zu ertragen, sie stehen auch in der Öffentlichkeit unter einem wachsenden Generalverdacht. So nutzten viele die Gelegenheit, hier zum ersten Mal persönlich auf die Anfeindungen reagieren zu können, ihren Gefühlen und Ängsten Ausdruck zu verleihen.

Am Schluss stand die Erkenntnis, dass das „Vertretungsdefizit in der Nordstadt“ behoben werden muss, um auch politische Weichenstellungen einfordern zu können und ein Umdenken in Gang zu setzen. Voraussetzung dafür ist die Fortführung eines Dialogs, der an diesem Abend im sweetSixteen hoffentlich seinen Anfang gefunden hat.

* Mit der Kampagne „Blickwechsel“ fordert der Planerladen e.V. einen radikalen Perspektivwechsel in der Dortmunder Nordstadt und „eine Allianz für soziale Inklusion statt Ausgrenzung der Schwächsten“ (www.planerladen.de).

Kinoprogramm | www.sweetsixteen-kino.de

ANN KATRIN THÖLE

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