Jahrelang waren die Rotorenbremser am Werk – jetzt hat sich der Wind gedreht im Lande: In mittlerer Frist könnten im Ruhrgebiet gut 70 neue Groß-Windräder errichtet werden. Vor allem die Zechenflächen-Vermarkter der RAG Montan Immobilien GmbH haben eine Reihe von Standorten im Blick, die bis 2020 mit Partnern und Bürgern entwickelt werden sollen. Auch der Regionalverband Ruhrgebiet (RVR) mischt mit und bringt neun geeignete Plätze ins Gespräch.
Heiner Bünger und seine Landwirt-Kollegen aus dem niedersächsischen Burgdorf erlitten noch vor zwei Jahren einen ungewöhnlichen Sturmschaden: Als „Godewind GbR“ wollte das Quintett ein 2-Megawatt-Windrad im hohen Bochumer Norden aufstellen. Die Stadt hatte den Bauplatz genehmigt, das Projekt durchlief die Ratsgremien ohne großen Widerstand. Der Proteststurm kam aber, als der Bau schon längst begonnen hatte – von der anderen Seite der Stadtgrenze. Eine Anwohnerin klagte und siegte vor dem Oberverwaltungsgericht. Die Richter hatten nämlich schon zuvor festgelegt, dass der Abstand zur nächsten Wohnbebauung mindestens der doppelten Anlagenhöhe entsprechen müsse. Pech für die bäuerlichen Investoren, dass der Groß-Propeller 30 Meter zu nah am Haus der Castroperin stand. Ein fertiger 100-Meter-Turm musste wieder abgerissen werden.
Doch die politische Großwetterlage hat sich geändert. Mit dem Winderlass lockerte Rot-Grün schon als Minderheits-Landesregierung etliche Bremsen. Durch die vorzeitige Neuwahl im Frühjahr verfügt man nun über satte Mehrheiten und definiert Windkraft als „tragende Säule der Energiewende“.
In dieser eine tatkräftige Rolle zu spielen hat sich die Essener RAG Montan Immobilien GmbH als „Nachlassverwalter“ des auslaufenden Steinkohlebergbaus vorgenommen. In relativer Stille switchten die lange eher als „behäbig“ geltenden Kohle-Herren auf grüne Projekte um. „Wir fragten uns, welche Potenziale unsere Flächen haben“, sagt ihr Chef Prof. Hans-Peter Noll. Heraus kam: ein Biomasse-Park auf dem „Hugo“-Areal in Gelsenkirchen, Solaranlagen auf erhaltenen Bergbaugebäuden in Herten und Moers. Sogar über Untertage-Speicherkraftwerke in Bottrop und Marl wird nicht mehr nur nachgedacht.
Der größte Wurf könnte mit der Flächenfreigabe für große Windkraftanlagen gelingen. „Wir haben neben anderen Standorten noch 31 Halden im Besitz“, zählt Nolls Prokurist Georg Bein auf, „insgesamt ergibt sich ein Potenzial von 62 Windrädern der 3-Megawatt-Klasse.“ Während andere mit Macht in die Offshore-Gebiete an Nord- und Ostsee drängen, hat man in Essen realisiert, dass auch im Revier „Godewind“ (guter Wind) zu ernten ist. Sofern man hoch genug hinauf steigt. Auf Bergehalden sind problemlos 2000 Volllast-Stunden erzielbar, die nach Berechnung des Bundesverbandes Windenergie gut 6 Millionen Kilowattstunden pro Jahr abwerfen. Das entspricht dem Bedarf von 1700 Familienhaushalten – pro Anlage, wohlgemerkt. „Konkret“, sagt Noll, „sind wir derzeit mit acht Projekten beschäftigt.“ Eines davon ist die Halde Kohlenhuck in Moers mit bis zu fünf Groß-Rotoren, die anderen verortet man eher an der Nordkante des Ruhrgebietes.
Auch der Regionalverband Ruhr (RVR), der einst von der RAG neun Halden übernahm, hat diese Plätze genauer unter die Lupe genommen. Allerdings gelte es neben Abständen zur Wohnbebauung und den Bedürfnissen des Naturschutz noch weitere gewichtige Kriterien zu beachten, mahnt RVR-Planungsdezernent Martin Tönnes: „Wir können natürlich nichts neben das Bottroper Tetraeder stellen. Die durch die IBA Emscher-Park mit Kunst gekrönten Halden sind unser touristisches Alleinstellungsmerkmal.“ Freilich gibt es Ausnahmen. Das Windrad auf dem Hertener Hoppenbruch ist gar nicht so weit entfernt vom Observatorium hoch über Recklinghausen-Hochlarmark. Aber das steht auf der separaten Hoheward-Halde. Zur Not verfügt der RVR auch noch über reichlich Waldflächen, über deren Wipfeln neuerdings auch vieles möglich ist.
RAG Montan wie RVR wollen nicht selbst als Windmüller auftreten, sondern die Flächen verpachten und andere machen lassen. So betreiben Emscher-Lippe Energie (ELE) und Mingas Power seit 2010 zwei Windräder auf der Halde Oberscholven. In Moers sitzen letztere mit am Tisch des Lokalversorgers Enni.
„Wir brauchen außer Baurecht vor allem die Akzeptanz der Bevölkerung“, ist Prof. Noll sicher, „ohne die geht gar nichts.“ Was läge da näher, als jene nicht nur anzuhören, in deren Gesichtsfeld sich die Riesen-Rotoren zwanzig Jahre lang drehen sollen, sondern auch am Gewinn zu beteiligen? „Wir haben einige Modelle erarbeitet, die Bürger als Gesellschafter einbeziehen. Auch wenn das sehr anstrengend werden kann“, antwortet Noll. Am anderen Ende des Reviers hat Martin Tönnes im Umfeld der Bergkamener Halde „Großes Holz“ eine engagierte Bürgerinitiative ausgemacht, die solche Pläne im Sinne von reinen Bürgerwindanlagen vorantreibt.
So neu ist dieser Gedanke übrigens nicht im Revier: Das Windrad auf der Halde Hoppenbruch haben nicht nur Ruhrwind GmbH und Hertener Stadtwerke, sondern auch 300 Bürgerinnen und Bürger mitfinanziert – und zwar schon 1997.
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