07.04.11 - Der Fußballfan ist im Allgemeinen auch Statistiker. Frei nach Nick Hornby: Wo andere Leute Meinungen haben, hat er Listen. Und die sagen ihm, dass es in dieser Bundesligasaison voraussichtlich einen Zieleinlauf geben wird, den wir vor genau neun Jahren schon einmal hatten: Borussia Dortmund vor Bayer Leverkusen und Bayern München.
2001/2002 hatte Bayer Leverkusen nahezu die gesamte Saison über dominiert und einen ausnehmend schönen und spektakulären Stil gespielt. Dafür sorgte vor allem das extrem offensiv ausgerichtete Mittelfeld mit Ballack, Schneider, Zé Roberto und Bastürk sowie Offensiv-Verteidiger Lucio. Erzielte einer von ihnen die Treffer nicht selbst, standen vorne auch noch die nominellen Stürmer Kirsten und Neuville zum Tore schießen bereit. Und wenn mal ein Spiel nicht so ansehnlich geriet, musste meist der arme (und unterbewertete) defensive Mittelfeldspieler Ramelow als Watschenmann herhalten.
In jener Saison festigten die Leverkusener endgültig ihren Ruf als ewiger Zweiter. Nach drei Vizemeisterschaften hinter den Bayern 1997, 1999 und 2000 ließen sie diese 2002 zwar hinter sich, mussten aber am Ende Dortmund passieren lassen, weil sie wieder einmal in den entscheidenden Momenten an ihren Nerven gescheitert waren und einen scheinbar sicheren Punktvorsprung hergegeben hatten. Nicht genug damit, verloren sie auch noch die Endspiele um DFB-Pokal und Champions League. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, machten sich fünf Leverkusener nach dem nächsten verlorenen Endspiel bei der anschließenden WM zu Vierfach-Vizes oder kurz Vivis. Immerhin einer – der Brasilianer Lucio – kam als Weltmeister zurück. (Und wem wurde anschließend zumindest eine Teilschuld am Führungstreffer der Brasilianer gegeben? Richtig, Ramelow)
Vizekusen war geboren, und wer den Schaden hat, sorgt für den Spott gleich selbst, dann tut‘s nicht ganz so weh. Eine Leverkusener Fan-Initiative startete eine Webseite mit dem Titel „Bayer 04: der ewige Zweite. Wir stehen zu Dir“. Dort findet man übrigens auch Lexikoneinträge der ganz speziellen Art. Sie stammen von der Dortmunder Fanseite borsigplatz.de. Danach bedeutet das Verb ‚leverkusen‘ verlieren, im entscheidenden Moment versagen, sich lächerlich machen, während das Substantiv ‚Leverkuser‘ für Verlierer, Versager, Witzfigur, Jammerlappen, brotloser Künstler steht.
Doch nun gibt es begründete Hoffnung für Bayer, die Schmach zu tilgen. 2010/2011 hat Borussia Dortmund nahezu die gesamte Saison über dominiert und einen ausnehmend schönen und spektakulären Stil gespielt. Sechs Runden vor Abschluss führt die Mannschaft mit einem scheinbar sicheren Punktvorsprung … da klingelt es beim ausgewiesenen Fußball-Statistiker. Was, wenn sich die Geschichte aus der Spielzeit 2001/2002 in dieser Saison mit umgekehrt verteilten Rollen wiederholte und Dortmund am Ende noch von Leverkusen überholt würde?
Nicht nur der statistische Aberglaube spricht eindeutig für Bayer. Fußballexperten stützen ihre Analysen und Prognosen darüber hinaus auch gerne auf Parallelen zwischen dem Fußball und den Entwicklungen in Politik und Gesellschaft. Und demzufolge hat Bayer das historische „momentum“ eindeutig auf seiner Seite. In Ägypten und Tunesien werden Diktatoren gestürzt, in Deutschland Atomkraftwerke abgeschaltet und in einem Bundesland eine Regierungspartei nach 58 Jahren abgewählt, an deren Stelle demnächst eine Koalition unter einem grünen Ministerpräsidenten treten dürfte … wann, wenn nicht in einem Jahr wie 2011, in dem quasi am Stück lauter bislang undenkbare Dinge geschehen und die versammelten Loser dieser Welt auf einmal alle gewinnen, soll Bayer Leverkusen Deutscher Fußballmeister werden?
Gut, in Köln würde man das weniger lustig finden. Aber beim ehemaligen Vier-Minuten-Meister Schalke 04 schon. Und sollten die Schalker dann auch noch DFB-Pokal und Champions League gewinnen, wäre der historische Kreis endgültig geschlossen, und wir könnten 2011 zum Jahr des siegreichen Underdogs ausrufen. Nicht auszudenken, was das wiederum im Umkehrschluss für die Politik bedeuten würde. Am Ende kommt es im Herbst noch zu vorgezogenen Neuwahlen des Bundestages, aus denen die Satire-Truppe „Die PARTEI“ mit einer absoluten Mehrheit hervorgeht.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Lässiger Spott
„Ophelia‘s Got Talent“ am Schauspiel Köln – Tanz in NRW 05/25
19 neue Standorte
KulturMonitoring in NRW wird ausgeweitet – Theater in NRW 05/25
Gegen Genderklischees
Eine Operetten-Wiederentdeckung in Köln – Oper in NRW 05/25
Tiefgründige Leichtigkeit
Marc Chagall in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW – Kunst in NRW 05/25
Großer Auftritt zum Finale
Der Pianist und Dirigent Lahav Shani in Dortmund – Klassik an der Ruhr 05/25
Sackschwer
Zamus: Early Music Festival 2025 in Köln – Klassik am Rhein 05/25
Kindheit zwischen Flügeln
Anna Vinnitskaya in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 04/25
Klaviertrio am Puls der Zeit
Das Pablo Held Trio auf der Insel – Improvisierte Musik in NRW 04/25
Mahnung gegen das Vergessen
„Die Passagierin“ am Theater Krefeld – Oper in NRW 04/25
In globalen Zeiten
Elias Sime im Kunstpalast in Düsseldorf – Kunst in NRW 04/25
Über Glaubensfragen
Mendelssohns „Elias“ am Theater Krefeld-Mönchengladbach – Klassik an der Ruhr 04/25
Plötzlich und heftig
Das Land NRW kappt Säulen der Tanzförderung – Tanz in NRW 04/25
Nach Entlassung des Intendanten
Das Kölner Theater der Keller mit neuer Führung – Theater in NRW 04/25
Hauptsache: ein gutes Geschäft
„Die Dreigroschenoper“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/25
Die Geheimnisse bleiben
Axel Hütte im Bahnhof Rolandseck – Kunst in NRW 03/25
Besuch aus Schweden
Nina Stemme singt Mahlers „Kindertotenlieder“ in Köln – Klassik am Rhein 03/25
Künstler der Superlative
Trompetenstar Wynton Marsalis in der Essener Philhamonie – Improvisierte Musik in NRW 03/25
Der unmögliche Traum
„Der Mann von La Mancha“ am Gelsenkirchener MiR – Oper in NRW 03/25
Opernstar zum Anfassen
„Festival Joyce DiDonato & Friends“ in Dortmund – Klassik an der Ruhr 03/25
Tanz der Generationen
„Kaleidoskop des Lebens“ von Choreografin Suheyla Ferwer – Tanz in NRW 03/25
Figur ohne Bewusstsein
„Don Giovanni“ an der Oper – Oper in NRW 03/25
Modelle für die Zukunft
Walter Pichler und Friedrich Kiesler in Krefeld – Kunst in NRW 02/25
Ein absoluter Tenor
Michael Spyres in der Philharmonie Essen – Klassik an Ruhr 02/25
Von Heilern und Kindern
Abel Selaocoe in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 02/25
Überraschungen vorprogrammiert
Das Urbäng Festival 2025 in Köln – Tanz in NRW 02/25