„Die Welt wird zusehends unfassbarer, wolkiger und gespenstischer“, behauptet Byung-Chul Han. Woran liegt das, möchte man den gebürtigen Koreaner fragen, der als Philosoph in Berlin an der Universität der Künste lehrte und derzeit wohl zu den hartnäckigsten Kritikern der Digitalität gehört. Unfassbarer wird die Welt, weil sich ein Übergang vollzieht. An die Stelle der Dinge der Gegenständlichen Welt treten zunehmend die „Undinge“, so der Titel von Hans neuem Essay. Den Unterschied zwischen beiden verdeutlicht Han treffend anhand der Fotografie. Während uns die analoge Fotografie ein Stück Papier liefert, auf dem das Licht durch chemische Prozesse den Körperabdruck eines Menschen dokumentiert, besteht das digitale Bild aus einer Information. Es ist das Ergebnis eines Rechenprozesses. Es ist ein „Unding“. Auch der Staubsauger, der Rasenmäher oder das selbstfahrende Auto erfüllen digital gesteuerte Funktionen, mit denen sich der Mensch nicht mehr befassen muss. Ihre Aura als Gegenstand wird nebensächlich, niemand interessiert sich für ein altes Handy. Nicht anders verhält es sich mit dem Smartphone, dessen Funktion vor allem darin besteht, einen Zugang zur digitalen Information herzustellen.
Dass sich Menschen in der Zukunft noch für die Aura eines Autos begeistern werden, ist kaum anzunehmen. Autos werden vor allem Funktionen erfüllen, darüber hinaus werden sie keine Faszinationskraft mehr besitzen. Wer erinnert sich heute noch an Radioapparate, kleine Kästen, aus denen auf geheimnisvolle Weise Stimmen und Musik zu hören waren? Die Wiedergabe von Musik ist heute kein räumliches Phänomen mehr, sondern gehorcht Rechenprozessen. Während den Dingen eine Geschichte anhaftet, stellt sich die Information als punktuelles Ereignis dar. Alles, was für Menschen von Bedeutung ist, braucht Zeit. Die Information besitzt aber weder Vergangenheit noch Zukunft, sie ist ganz Gegenwart. Informationen sind dort wichtig, wo sie uns etwas über die Realität mitteilen. Mit dem Übermaß an Information, ist die Nachricht zur Unterhaltung geworden, sie zerstreut. Während die Dinge von uns und ihrem Gebrauch erzählen, bleibt die Information über ihren Nachrichtenwert hinaus ohne Bedeutung.
Han greift zwar etliche Ideen des viel zu früh verstorbenen Medientheoretikers Vilem Flusser auf, aber er verortet sie auch an Beispielen unserer Gegenwart. So erinnert er daran, dass uns das Smartphone schon in seinen Funktionsweisen dazu anhält, alles Unbekannte auszusortieren. Es ist ganz auf Homogenität ausgerichtet. Wir wachsen als Person aber nur durch die Begegnung mit dem Anderen, vor allem dem Anderen in uns selbst. Davon kann beim Selfie keine Rede sein. Das analoge Porträt ist immer auch auf ein inneres Bild der Person angelegt, das Selfie will jedoch gezeigt werden. Seine Funktion findet es nicht im Dokumentieren und Erinnern, sondern in der digitalen Kommunikation. Hans Nachdenken über den Verlust der Dinge macht vor der Kunst nicht halt. Auch Kunstwerke werden zur Information, wenn sie politisch korrekt allein in Botschaft und Meinung aufgehen.
Byung-Chul Han: Undinge. Umbrüche der Lebenswelt | Ullstein | 126 S. | 22 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Nerds retten die Welt
„RCE: #RemoteCodeExecution.“ von Sibylle Berg – Klartext 08/22
Gesellschaftscomic
In wilden Bildwelten quer durch die Bevölkerung – Comickultur 08/22
Neoliberale Sekten
Autor Clemens Bruno Gatzmaga in Dortmund – Literatur 08/22
Sanftmut und Leidenschaft
Die Entdeckung des Romanciers André Dhôtel – Textwelten 08/22
Slammen im Freien
Poetry Jam beim Sommer am U
Kirchensprech für Anfänger
Lesung des Autors Andreas Malessa
Tierische Kuriositäten
Juri Johanssons „Von Schildflöten, Herdmännchen und Großmaulnashörnern“ – Vorlesung 08/22
Keine falsche Scham
„Mut zum Blut“ von Chella Quint – Vorlesung 07/22
Das digitale Prekariat
Autorin Berit Glanz in Dortmund – Literatur 07/22
Spaziergang durch Houston
Bryan Washingtons „Lot. Geschichten einer Nachbarschaft“ – Klartext 07/22
Befreiungskampf und Erinnerung
Zwischen indigenen Feminismen und Literaturklassikern – Comickultur 07/22
Du spinnst wohl!
Nachruf auf den Wuppertaler Cartoonisten POLO – Portrait 07/22
Der mit dem Teufel tanzt
Charly Hübner in Altenessen – Literatur 07/22
Sprachlose Männer
„Dämmerung der Leitwölfe“ von Werner Streletz – Textwelten 07/22
Das Vorurteil Entwicklungshilfe
Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga in Essen – Literatur 06/22
Brown Monday
Autorin Heike Geißler in Hagen – Festival 06/22
Der Wellensittich und die Arbeiter
Martin Becker in Dortmund – Literatur 06/22
Ein Planet, viele Menschen
„Alle zählen“ von Kristin Roskifte – Vorlesung 06/22
Privilegierte Perspektiven
Autor und Fußballweltmeister Lilian Thuram in Dortmund – Literatur 06/22
Unendliche Weiten
Alice Beniero illustriert „Das Weltall“ – Vorlesung 06/22