Öffnet der Konsument das WWW, scheint er unmittelbar überfordert: Klickt er das millionste Katzenvideo an? Turnt ihn das ASMR-Date an? Die 52 angeberisch anmutenden Fotos einer Bekannten, directly in front of the amazing but stolen Südsee? Oder die Bilder ihres ach so prächtigen Nachwuchses? Bloß, dass dieser nicht gefragt wurde. Nachdem ihn die ebenfalls unfreiwillig gefilmte Katze in dem Video missmutig anfaucht, wirkt er völlig derangiert. Es scheint, als saugten das Internet und die sozialen Netzwerke die gesamte Gehirnmasse des Konsumenten direkt aus ihm heraus, eine ischämische Lähmung in seinem Gesicht erzeugend, ohne dabei etwas in der Realität getan zu haben.
Wannabe-trendy-Fotos
Ich streame, also bin ich? Vielleicht sollte die Formulierung eher „war ich“ lauten. Immerhin verstarb im letzten Jahr tatsächlich eine Influencerin. Der Grund: eine Schönheits-OP. Ihr Traumprodukt: nie mehr zu schwitzen. Jetzt ist die 23-jährige Odalis Santos Mena groteskerweise bis in alle Ewigkeit erkaltet. Der Online-Kapitalismus scheint zu boomen und beherrscht den digitalen Raum. Die Beauty-Industrie blüht auf – dank digitalem Streamen und Influencen auf Teufel und Tod komm raus. Nicht zu vergessen: die zahlreichen Menschen, die beim Posen für waghalsige wannabe-trendy-Fotos das Zeitliche für das Digitale segneten.
Spooky Kriegsfeld
Das Internet = mein Feind und Sünder? Eine Schwarz-weiß-Malerei? Nö. Schließlich ist jenes in seiner Idee schon demokratisch, da tatsächlich mehr Personen zu Wort kommen. Man muss heute eben kein abgeschlossenes Studium haben, um einen Artikel zu verfassen. Frau muss sich kein männliches Geschlechtsteil dranschweißen, um einen Blog leiten zu können. Es hat auch etwas Sympathisches. Waren Artikel früher alle vorbildlich? Zweifelhaft. Gerade in Ländern, in denen Menschen unterdrückt werden, kann Posten durchaus sinnvoll, gar lebensrettend sein. In der Krise wurde die Datenübertragung berühmter denn je. Ob sie echtem Wissen und einer realen Kultur nahekommen kann, sei natürlich dahingestellt. Von technischen Problemen einmal abgesehen. Bei der Auswahl der Themen und dem Wahrheitsgehalt mutet es zugegeben an wie ein spooky Kriegsfeld. Fake oder nicht? Von Hate-Posts ganz zu schweigen. Hier toben Wüteriche jeder politischen Färbung polternd herum.Should I stream or should I go?That is the question. Vielleicht ist das aber die falsche Frage. Schließlich hält die digitale Demokratie neben dem Banal-Schrecklichen auch mindestens ebenso viel Bereicherndes und Interessantes bereit.
ICH STREAME, ALSO BIN ICH - Aktiv im Thema
schau-hin.info | Ratgeber für Eltern und Erziehende über Schutz und sinnvolle Mediennutzung von Kindern.
klicksafe.de | Die Initiative der EU bietet Infos und Tipps zum kritischen Umgang mit Medien.
jungundnaiv.de | Das Team um Tilo Jung führt vor der Kamera ausführliche Interviews mit Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Forschung und Gesellschaft.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Vertreter Superstar
Intro – Ich streame, also bin ich
Links, zwo, drei, vier
Der Rezo-Effekt als wichtige Erkenntnis für progressive politische Arbeit in Sozialen Medien – Teil 1: Leitartikel
„Die beste Kontrolle ist, Gegenwelten aufzumachen“
Autor Wolfgang M. Schmitt über das Phänomen der Influencer – Teil 1: Interview
Souveränität vs. „Konsumdressur“
Medienpädagoge Daniel Schlep fordert echte Medienkompetenz – Teil 1: Lokale Initiativen
Digitale Booster menschlicher Dummheit
Im Netz sind wir nur eine Filterblase voneinander entfernt – Teil 2: Leitartikel
„In die Blase hineingesteckt und allein“
Psychologin Cornelia Sindermann über Filterblasen und Echokammern – Teil 2: Interview
An einem Tisch, selbst digital
Wuppertaler Bildungsreihe Fight for Democracy trainiert Verständigung auf Augenhöhe – Teil 2: Lokale Initiativen
Du bist, was du klickst
Meinungsbildung im digitalen Raum – Teil 3: Leitartikel
„Der Respekt vor Autoritäten ist geschwunden“
Medienwissenschaftler Jochen Hörisch über klassische und neue Medien – Teil 3: Interview
Schöne Technik, sichere Daten
Zu Besuch beim Chaos Computer Club Cologne – Teil 3: Lokale Initiativen
Nach der Propaganda
Mehr Medienkompetenz für die Demokratie – Europa-Vorbild: Estland
Neidischheit und Geiz und Reichheit
Die Reichen sind geizig und die Armen neidisch. Klare Sache? – Glosse
Der Beverly Hüls Cop
Warum Gewaltenteilung, wenn es nur eine Gewalt braucht? – Glosse
Gemeinsam einsam
Die Kunst, nebeneinander zu sitzen und Welten entfernt zu sein – Glosse
Besser erzählt
Vom verborgenen Kollektiv, das sich die Zukunft ausdenkt – Glosse
Die Große Freiheit
Menschen und die Grenzen des Wahnsinns – Glosse
Held der Arbeit
Wer sehr hart arbeitet, wird reich! – Glosse
Freiheitskampf zwischen LEDs
Widerstand in einer fast wirklichen Welt – Glosse
Zu Fuß zur Gerechtigkeit
Von Bahnen, die nicht fahren – Glosse
Glück auf Klick
Von digitalen Keksen und echter Pasta – Glosse
Scheiße, ich blute!
Ist die Geschichte der Menstruation voller Missverständnisse? – Glosse
Machmenschen
Was es braucht für die grüne Stadt – Glosse
Falsch, aber wichtig
Vom Wesen der Wirtschaftstheorie – Glosse
Diplomatische Kalaschnikow
Über einen missverstandenen Beruf – Glosse