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Foto: Peter Kolling

Dann schreib doch vom Penny!

02. Mai 2020

Sarah Jäger macht Discounter-Hinterhof zum Nabel der Welt – Literaturportrait 05/20

Eine Handvoll Jugendliche, deren Lebensmittelpunkt der Hinterhof des örtlichen Penny-Marktes ist, bricht auf, um ein verschwundenes Mitglied der Clique zu suchen – kaum fallen die Stichworte Coming-of-Age, Autofahrt mit unklarem Ziel und heißer Sommer, schon zieht die Literaturkritik die „Tschick“-Schublade auf. Dass Sarah Jägers Debüt im Programm des Rowohlt-Verlags die Nachbarschaft von Herrndorf und auch Kirsten Fuchs („Mädchenmeute“) genießt, macht es nicht leichter, diese Fixpunkte der jüngeren deutschen Jugendbuchliteratur auszublenden. Dabei hat „Nach vorn, nach Süden“ einen ganz eigenen Tonfall und auch das soziale Gefüge der Penny-Markt-Hinterhofclique stellt einen eigenständigen erzählerischen Kosmos dar.

Seit 2016 arbeitet die ausgebildete Theaterpädagogin Sarah Jäger in der Essener Buchhandlung proust wörter + töne, wo sie sich speziell deutschsprachigen Romandebüts und dem Kinder- und Jugendbuchbereich widmet. Dass ihr eigenes Debüt kürzlich in der Buchhandlung ein rauschendes Premierenfest feierte, versteht sich von selbst.

„Das war zu Beginn eher eine Spielerei“

Auf die Frage nach der Grundidee der Penny-Hinterhof-Clique angesprochen, räumt Jäger ein, dass „Nach vorn, nach Süden“ eigentlich nicht ihr erster Roman ist: „Ich habe noch einen in der Schublade. In meinem so wirklich richtig ersten Roman ‚Nordseite‘ habe ich das Leben in einem etwas heruntergekommenen Stadtviertel beschrieben – und in diesem Stadtviertel war der Penny-Markt ein zentraler Anlaufpunkt, sowas wie der moderne Dorfplatz. Jo, der in ‚Nach vorn, nach Süden‘ verschwunden ist, war eine der Hauptfiguren meines ersten Romans. Marie und Can tauchen bereits auf, der Hinterhof, die Holzpaletten. Und auch Entenarsch läuft zwei- oder dreimal durchs Bild. Eine Literaturagentur hatte ‚Nordseite‘ verschiedenen Verlagen angeboten, aber damals hat niemand angebissen. Das Warten und Hoffen macht einen irgendwann fertig, und um nicht komplett durchzudrehen, habe ich mir mit Entenarsch eine Randfigur aus dem ersten Roman rausgepickt und angefangen, ‚Nach vorn, nach Süden‘ zu schreiben. Das war zu Beginn eher eine Spielerei. Ich habe neben Marie, Can und Entenarsch neue Protagonist*innen in den Penny-Hinterhof gesetzt. Vika, Otto, unseren Pavel, Leroy, Marvin. Plötzlich waren sie alle da, haben mein Herz erobert, und die Reise konnte losgehen.“

Jäger weiß also, wie es sich anfühlt, wenn ein Manuskript keinen Verlag findet. Bei „Nach vorn, nach Süden“ lief es dann gänzlich anders. „Da habe ich noch nicht einmal einen Verlag gesucht“, schmunzelt sie, „ich hatte gerade einmal 30 Seiten, als ich bei einem Seminar Christiane Steen, die Programmleiterin von Rowohlt Rotfuchs, kennengelernt habe. Sie war sofort Feuer und Flamme, wir sind in Kontakt geblieben, und nach sieben Monaten habe ich ihr das fertige Romanmanuskript geschickt. Es kann also alles federleicht sein, manchmal musst du gar keinen Verlag suchen, der Verlag findet dich. Aber ich kenne auch den langsamen Weg, der wahnsinnig zermürbend ist, und so du am Ende keinen Verlagsvertrag, sondern nur eine Handvoll Selbstzweifel hast.“

Wenn man als Buchhändlerin einen guten Überblick über die aktuelle Kinder- und Jugendliteratur hat – hemmt das nicht die eigenen Ambitionen? Im Gegenteil, Sarah Jäger sieht in dem Angebot großartiger Kinder- und Jugendbücher eher einen Ansporn für die eigene Arbeit. Hinsichtlich der Verkaufszahlen hat sie sich allerdings keine Illusionen gemacht: „Niemand in der Welt des Literaturbetriebs – jenseits des Ruhrgebiets) – kennt mich, ich habe vor der Veröffentlichung keine Stipendien oder Literaturpreise gewonnen, keine erwähnenswerte Reichweite in den sozialen Medien, weder Feuilleton noch Christine Westermann haben auf meinen Roman gewartet. Deshalb bin ich total überrascht, wie viel Aufmerksamkeit meine Penny-Gang bislang bekommen hat. Deutschlandfunk, ZEIT, Süddeutsche, WDR – damit hätte ich überhaupt nicht gerechnet. Ich wollte veröffentlicht werden, viel weiter habe ich nicht gedacht, und alles danach ist ein großes Geschenk.“

Ich wollte keinen neuen ‚Tschick‘ schreiben“

Beim Thema Feuilleton kommt man natürlich auch auf den „Tschick“-Vergleich zu sprechen, der die Autorin aber laut eigenem Bekunden gar nicht nervt: „Als Buchhändlerin arbeite ich ja auch ständig mit Vergleichen, um einem Kunden oder einer Kundin einen Roman näherzubringen. Ich wollte sicherlich keinen neuen ‚Tschick‘ schreiben, aber der Vergleich war zu erwarten: Eine Geschichte über junge Menschen, die in einem Auto unterwegs sind. Das reicht schon für die Schublade, auch wenn alles andere komplett abweicht. Ich habe ‚Tschick‘ vor vielen Jahren gelesen und liebe den Roman bis heute – ganz ehrlich, es hätte mich wirklich schlimmer treffen können.“

Und welche Romane, welche Autoren liebt Sarah Jäger darüber hinaus? „Da ich in meiner Freizeit Teil des Blogprojekts ‚Das Debüt‘ bin, habe ich in den letzten Jahren vor allem Debütromane gelesen. An dieser Stelle könnten wir nochmal über ‚Hemmung der Ambitionen‘ sprechen. So viele herausragende Debütromane, die öffentlich kaum wahrgenommen werden. Hoffnungsvoll gestartet, werden sie nach wenigen Monaten von uns Buchhändler*innen schon wieder an die Verlage zurückgeschickt, weil wir Platz für die nächsten Neuerscheinungen brauchen. Es ist eine deprimierend kurze Zeitspanne, in der ein Roman für Leser und Leserinnen sichtbar werden kann. Das ist natürlich gerade in den letzten Wochen ein großes Thema und ein Riesenproblem: die Leipziger Buchmesse wurde abgesagt, die Buchhandlungen sind geschlossen, die Präsentation des gesamten Frühjahrsprogramms aller Verlage ist nur eingeschränkt möglich – und ab August warten schon die Neuerscheinungen des Herbstes. Aber ich schweife ab. Ich bewundere Autorinnen wie Ursula Krechel oder Nino Haratischwili. Oder Anna Seghers mit ihren Romanen ‚Transit‘ und ‚Das siebte Kreuz‘ sowie vielen ihrer Erzählungen. Ich bewundere diese Autorinnen für ihre Klugheit und ihr literarisches Gespür. Für die Ernsthaftigkeit und das Absolute, das all ihre Werke prägt. Ich würde diese Ernsthaftigkeit so nie in meine Romane hineinschreiben können“, gibt Jäger zu, „sie würde bei mir wahnsinnig angestrengt wirken, im schlimmsten Fall wie eine halbgare Pose. Ich brauche immer ein Augenzwinkern, und das finde ich manchmal schade.“

Ein Kunde hat mich mit Fontane verglichen“

Die Premierenlesung bei „Proust“ fand knapp vor dem Corona-Shutdown statt. Wie erlebt man diese merkwürdige Zeit als Autorin? „Am Anfang war ich verzweifelt. Da wünsche ich mir jahrelang so sehr, einen Roman zu veröffentlichen, mit Messe in Leipzig, Lesungen und allem, und genau dann schlägt eine weltweite Epidemie zu. Da fühlt man sich betrogen, man weiß nur nicht, von wem. Aber es ist die falsche Zeit für Selbstmitleid, denn es geht uns ja allen so: Anfang April hätte Karosh Tahas zweiter Roman erscheinen sollen, der Erscheinungstag wurde nun auf Mitte Mai verlegt, alle Lesungen wurden abgesagt oder verschoben. Auch Amanda Lasker-Berlin, deren Roman ‚Elijas Lied‘ in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen ist, hätte sich ihre Zeit als Debütautorin sicherlich anders vorgestellt. Es betrifft uns alle.“ Dass sie ihr eigenes Erleben der Ausnahmesituation nicht in den Mittelpunkt stellt, hat für Sarah Jäger einen naheliegenden Grund: „Zur Zeit bin ich mehr Buchhändlerin als Autorin, das Wichtigste ist zunächst, dass die Buchhandlung Corona übersteht. Wir haben unsere Arbeitsabläufe komplett umgestellt und bieten einen Lieferservice an. Da wir in der Buchhandlung immer noch telefonisch und per Mail erreichbar sind, bekomme ich zwischendurch Rückmeldungen von Kund*innen, die mein Buch gelesen haben. Dieses direkte Feedback ist in diesen Zeiten natürlich ein unglaubliches Privileg. Ein Kunde hat mich übrigens mit Fontane verglichen. Es muss also nicht immer ‚Tschick‘ sein.“

A propos Kunden: Wie fühlt es sich an, an seinem Arbeitsplatz die Rollen zu tauschen und vor den Kunden zu lesen? „Es war ein Fest!“ strahlt Jäger mit Nachdruck, „natürlich hatte ich schlimmes Lampenfieber, aber ich wusste ja, dass an dem Abend nur Menschen in der Buchhandlung sein würden, die sich mit mir freuen wollten. Und das haben wir dann auch gemacht. Wir haben uns gemeinsam gefreut. Das scheint wahnsinnig lange her zu sein, gefühlt war es der letzte Abend vor dem Shut Down, bevor alles anders wurde. Umso dankbarer bin ich, dass die Book Release Party noch stattfinden konnte, und dass sie nachweislich keine Infektionskette ausgelöst hat. Allein für diesen Abend – und das meine ich ohne Übertreibung – allein für diesen Abend hat es sich gelohnt, ‚Nach vorn, nach Süden‘ zu schreiben!“

Sarah Jäger: Nach vorn, nach Süden | Rowohlt rotfuchs | 224 S. | 18 €

Frank Schorneck

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