Eine bessere Reaktion, als sie Christian Geisslers Texte an diesem Abend bewirken, kann Literatur kaum erzielen. „Man zieht seine Schlüsse daraus“, empfindet ein Zuhörer aus der zweiten Reihe laut über Geisslers Texte in der Diskussion nach der Lesung. Erasmus Schöfer, der die Texte an diesem Abend präsentiert, zieht interessiert die Stirn zusammen, fast didaktisch hakt er nach: „Nämlich welche?“ – „Dass es so nicht geht!“, so die Antwort.
Es ist das Leben von ArbeiterInnen, was so nicht weitergehen kann und wie es Geissler etwa in seinem Roman „Kalte Zeiten“ beschreibt. Die Schlussszene hallt nach: Der Protagonist, ein 25 Jahre alter Baggerführer kehrt nach der Arbeit heim, wo er zusammen mit seiner Frau wohnt. Man ist müde, hat sich nicht viel zu sagen. Seine Frau geht ins Schlafzimmer, er starrt vor sich hin. Im Plattenspieler dreht eine Scheibe trist ihre Runden. „Ihm fror. Sonst nichts.“
Das ist Tristesse pur, „im Grauton gefallen“, wie es Erasmus Schöfer kommentiert, nachdem Thomas Mücke die letzte Passage aus Geisslers Œuvre gelesen hat: „Ein ziemlich deprimierender Schluss, der eigentlich keine Hoffnung lässt.“ Trotzdem ist es nicht zuletzt die „unheimliche Genauigkeit der Beobachtung“, die Schöfer am einstigen Kollegen schätzt: „Meine Nähe zu Christian Geissler rührt daher, dass ich gesehen habe, wie sehr er sich um die arbeitenden Menschen kümmert.“ Jedoch übt er auch, wie er sagt, „kollegiale Kritik“ an Geissler, da er nicht die Leute zeige, die es besser gemacht haben: „Es gab ja Menschen, die sich wehrten“, so Schöfer.
Wenn man so will, ist das trotz der Schnittmenge, sich mit den literarischen Texten der Lage der Arbeiter verschrieben zu haben, der Unterschied zwischen den beiden Autoren, dem 2008 verstorbenen Geissler und dem proletarischen Romancier Schöfer, der Geisslers Texte an diesem Abend im gut besuchten Literaturhaus Dortmund vorstellt und kommentiert: Während Schöfer etwa in seinem Roman-Zyklus „Die Kinder des Sisyfos“ die Aufbruchstimmung der 68er-Bewegung und die Folgejahre voller Kämpfe und Emanzipation einfängt, zeigt Geissler in seinem Werk ein neorealistisches Bild der Entfremdung, „Hoffnungslosigkeit hinsichtlich der Arbeiterklasse“, wie es Schöfer ausdrückt.
Beide eint aber, auf ihre eigene Art sich der Sache der ArbeiterInnen verpflichtet zu haben. In den 1950er Jahren lehnten sie die Gruppe 49, die damals die Literaturlandschaft der Nachkriegszeit mit AutorInnen wie Böll, Grass oder Bachmann beeinflusste, ab, weil ihnen dort eine literarische Auseinandersetzung mit dem Leben der ArbeiterInnen fehlte. Vor allem Geissler versucht es später bei der Dortmunder Gruppe 61, die literarisch die industrielle Arbeiterwelt thematisierte. Der Verbrecher-Verlag gibt Geisslers Werke nun neu heraus. Sie wirken alles andere als verstaubt: „Kalte Zeiten“ und „Schlachtvieh“ sind auch nach Jahrzehnten Literatur, die bewegt, die schlichtweg notwendig ist. Egoismus, Zynismus und Konsumorientierung statt Solidarität – ein ungetrübter Blick auf die ArbeiterInnenklasse voller Verzweiflung und Entfremdung, wo nicht ein mal ein Schimmer hoffnungsvoller Lakonie, wie man sie etwa aus den tristen, proletarischen Filmwelten eines Kaurismäki kennt, aufblitzt. Aber es gilt, das ist der Zauber, der von Geisslers Texten ausgeht: Man zieht seine Schlüsse. Nur wenige Beispiele an Gegenwartsliteratur kann diese Wirkung für sich behaupten.
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