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Dicke Bücher schlagen die Studierenden auf. Das Semester hat gerade begonnen. Zwei Wochen Steuerverfassungsrecht stehen für sie in diesem Herbst an, wie Professor Roman Seer in seiner Vorlesung ankündigt. Worum es geht, projiziert der Beamer an die Leinwand: „Gesetzmäßigkeit der Besteuerung“. Grundlage ist Artikel 20 des Grundgesetzes. Daran kommen sie auch am Kompetenzzentrum Steuerrecht der Ruhr-Universität Bochum nicht vorbei – vor allem, wenn es um Steuerrechtsfälle geht.
Der Lehrstuhl wurde bereits 1971 gegründet. Zum Wintersemester 2009/2010 folgte das Institut für Steuerrecht und Steuervollzug. Fälle von Steuerflucht stehen nicht in den Lehrplänen. Es geht um die juristischen Basics. „Was die Studierenden hier mitkriegen, sind die Prinzipien des Steuerrechts“, stellt Roman Seer klar. „Wo sind die Macken des Steuerrechts, was ist Steuergerechtigkeit?“. Der gesetzliche Rahmen lässt gewisse Freiheiten, so der Jurist: „Jeder darf vom Gesetz eröffnete Lücken so ausnutzen, dass er die geringstmögliche Steuer zahlt.“ Er spricht von „Steuergestaltung und -minimierung“.
Diesen Gestaltungsspielraum missbrauchen allerdings manche wirtschaftliche Akteure. „Die Finanzbranche sucht häufig nach Lücken, um Steuervorteile auszunutzen“, so Seer. Schwierig ist es auch im globalen Wettbewerb. Das verdeutlichen digitale Geschäftsmodelle wie z.B. das von Facebook. Betreiber sozialer Netzwerke verwerten die Daten, die von Nutzern übermittelt werden, um Profite zu erzielen. Doch Facebook betreibt keine Filialen und verkauft keine Waren, an die der Staat seine Besteuerung knüpfen könnte. „Da kann man sich fragen: Hat Facebook irgendetwas zu versteuern?“, so Seer. „Diese Geschäftsmodelle hat das Steuerrecht nicht wirklich erfasst.“
Die Kapital- und Steuerströme fließen global, während sich der juristische Geltungsbereich auf nationale Rahmen beschränkt. Noch komplexer gestaltet es sich in der föderalen Bundesrepublik, wo die Besteuerung weitgehend durch die Finanzbehörden der Länder durchgesetzt werden muss. Roman Seer verdeutlicht das am Beispiel eines multilateralen Abkommens über den internationalen Austausch von steuerrelevanten Daten. Solche Abkommen schloss der ehemalige Finanzminister Wolfgang Schäuble für die Bundesrepublik mit verschiedenen Staaten ab. Damals standen etwa die Schweiz oder Luxemburg wegen ihres Bankgeheimnisses als Steuerfluchtorte in den Schlagzeilen.
Mit dem Steuerdeal verpflichteten sich die Vertragsstaaten zur gegenseitigen Meldung von Kontodaten. „Das war der richtige Schritt, um durch Transparenz der Steuerflucht zu begegnen“, sagt Seer. Das Ergebnis: Circa 2,5 Millionen Daten wurden gesammelt. „Jetzt müssen die deutschen Finanzbehörden aber zusehen, diese auch auszuwerten.“ Das ist gar nicht so einfach, weil der Bund die Daten nur sammelt, der Steuervollzug dagegen nach dem Grundgesetz den einzelnen Ländern obliegt“, erklärt der Rechtswissenschaftler.
Um einen zentralen Steuervollzug durch den Bund zu garantieren, wäre eine Grundgesetzänderung notwendig. Dafür fehlen aber die Mehrheiten, sodass die Datenauswertung durch die Mühlen des Föderalismus geht. „Das Ergebnis der Datenauswertung ist noch nicht sichtbar“, so Seer über die bisherigen steuerrechtlichen Schritte: „Wenigstens ist es nicht so, dass der Staat schläft. Aber es gestaltet sich mühsam.“
Viele dieser Fragen bleiben in Zeiten globaler wie digitaler Wirtschaft weiter klärungsbedürftig. Für Seer sind diese Herausforderungen durchaus ein Forschungsgegenstand: „Zur Optimierung des Steuervollzugs bedarf es eines Thinktanks.“
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