Unbedingt anschauen! Diese Empfehlung lässt sich für Luigi Nonos „Intolleranza“ mit dem aktualisierenden Zusatz „2022“ am Opernhaus in Wuppertal bedenkenlos aussprechen. Nach der Premiere am 4. Juni 2021, pandemiebedingt nur mit einem kleinen Häuflein Journalisten als Publikum, war Nonos Musiktheater nur als Stream zu sehen. Jetzt besteht die Chance, das einzigartige Live-Erlebnis nachzuholen.
Nonos Ikone der neuen Musik aus dem Jahr 1961 wird in Wuppertal in einem sonst kaum möglichen Raumklang-Konzept umgesetzt, das den Vorstellungen des Komponisten sehr nahe kommt. Das Publikum sitzt im Parkett, hat vor sich auf der Hinterbühne, zehn Meter hoch gestaffelt, 12 Schlagzeuger und 12 Blechbläser, im Graben Streicher, Celesta und Harfen, auf den Rängen 12 Holzbläser und die 24 Sängerinnen und Sänger des Wuppertaler Opernchores, verstärkt durch Einspielungen des Chorwerks Ruhr. Der musikalische Leiter Johannes Harneit dirigiert im Graben und wird durch einen zweiten Dirigenten, Stefan Schreiber, hinter der Bühne unterstützt.
Das Ergebnis ist eine musikalische Wucht: breit gesplitteter Klang, extreme Transparenz, Reibungen statt Vermischung. Die minutiöse Klangkalkulation im Raum führt zu verdichteten und verschmelzenden Klängen, zu sphärischen Interferenzen und schwebenden Tongespinsten. Regisseur Dietrich Hilsdorf kommt es darauf an, die Geschichte klar und unmissverständlich zu erzählen: Nonos Protagonist ist ein Gastarbeiter in einer schmutzigen Mine eines fremden Landes, ein Prototyp eines Menschen, der seiner selbst als Subjekt der Geschichte bewusst wird und den Kampf mit den ökonomischen Verhältnissen aufnimmt. Nonos Begriff von der Geschichte, in der sich ein Befreiungsprozess vollzieht, lässt sich auf philosophische Vorstellungen des in Barmen geborenen Friedrich Engels‘ zurückführen, dessen 200. Geburtstag 2020 eigentlich mit der Neuinszenierung von „Intolleranza“ gefeiert werden sollte. Das Thema bleibt aktuell angesichts der Krisen in der Welt des 21. Jahrhunderts – und Hilsdorf Verweise auf das Schicksal moderner Arbeitssklaven aktualisiert das Provokante von Nonos Erstlingsoper.
Intolleranza 2022 | 22.10., 5.11., 22.12. | Opernhaus Wuppertal | 0202 56 37 666
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