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Karin de Miguel Wessendorf
Foto: Jan Schliecker

„Viele Menschen sehen es nicht mehr ein“

20. Mai 2019

Karin de Miguel Wessendorf über „Die Rote Linie – Widerstand im Hambacher Forst“ – Gespräch zum Film 05/19

Im Rheinischen Braunkohlerevier 30 Kilometer westlich von Köln ist das letzte Stück des alten, ökologisch einzigartigen Hambacher Forsts zu einem Symbol der Anti-Kohle-Bewegung geworden. Eigentlich sollte es gerodet werden, um dem Tagebau Platz zu machen, doch die jahrelangen Proteste und die Waldbesetzung führten zu einer öffentlichen Debatte über Naturschutz und die Zukunft fossiler Energieträger. Die in Barcelona geborene freie Journalistin und Dokumentarfilmerin Karin de Miguel Wessendorf („Weniger ist mehr“) dokumentiert in „Die Rote Linie – Widerstand im Hambacher Forst“ (Kinostart: 23.5.) den Verlauf der Proteste und die Beweggründe der Aktivisten und Bürgerinitiativen vor Ort.

trailer: Karin, wie muss man sich die Situation im Braunkohlerevier vorstellen, die im Zentrum deines Films steht?
Karin de Miguel Wessendorf: Ich habe im Jahr 2015 angefangen mich damit zu beschäftigen, als ich herausgefunden habe, dass es den Hambacher Forst gab, ein Wald neben dem Tagebau Hambach, dem größten Loch Europas. Der Wald war früher sehr groß, jetzt sind es nur noch 500, 600 Hektar, und dort lebten damals Menschen in Baumhäusern, die den Wald besetzt hatten, um einer Rodung im Weg zu stehen. Das ist aber nur ein Teil des Protestes. Es gibt auch Gruppen, die schon viel länger gegen den Tagebau vorgehen: Bürgerinitiativen in den Dörfern der Region, die auf verschiedene Weise vom Tagebau betroffen sind. 2015 bekam ich mit, dass große internationale Proteste im Rheinischen Braunkohlerevier stattfinden sollten, dass Menschen aus ganz Europa dorthin kommen, um Aktionen des zivilen Ungehorsams im Tagebau durchzuführen. Das hat mich interessiert, weil ich das Ganze auch nicht kannte – obwohl ich wirklich schon sehr lange in Köln lebe, war mir das Ausmaß dieser Tagebaue mit seinen Umwelt- und Klimaauswirkungen nicht bewusst. Das ganze Konglomerat von Gruppen hat mich sehr interessiert, vor allem die Frage, wie arbeiten die zusammen: kleine Gruppen von Bürgern aus einem Dorf mit radikalen Aktivisten, die einen Wald besetzen? Ist das eine Konstellation, die miteinander funktioniert?


Die Rote Linie – Widerstand im Hambacher Forst

Im letzten Jahr haben die Medien viel berichtet, was ist nun der Schwerpunkt deines eigenen Films?
Der Ansatz war, dass es überhaupt bekannt wird, denn 2015 war der Informationsstand sehr niedrig, auch in Köln. Das hat sich 2018 geändert, als die Räumungsaktion und der Protest dagegen so groß wurde. Ich habe ja schon viel früher angefangen das zu dokumentieren, und was mich von Anfang an interessiert hat, war: Welche Entwicklungen machen die Menschen da durch, die ich über mehrere Jahre begleite, und vor allem, wie kommen sie zusammen? Nähern sie sich aneinander an? Und was steht eigentlich dahinter? Wie kommen Menschen dazu, große Teile ihres Lebens so einem Widerstand zu widmen? Und die andere Sache ist natürlich, als die Proteste im Herbst 2018 so groß wurden: Wie kommt es dazu, dass ein Protest, der jahrelang unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor sich hin passiert, so groß wird, dass so viele sich berufen fühlen dahin zu gehen und sich solidarisch erklären mit diesen Menschen vor Ort?

Der Film erhält seine Relevanz auch durch die Rolle, die der Hambacher Forst beim gegenwärtigen Umdenken in Sachen Natur und Energie eingenommen hat.
Ich glaube, dass der Hambacher Forst sich zu einem Symbol entwickelt hat, auch international. Warum das so ist, hat verschiedene Gründe, aber es ich kann mir vorstellen, dass es eben ein Ort ist, an dem die Hauptkonflikte unserer Zeit sehr greifbar sind und wie sich die in den nächsten Jahren austragen werden. Es ist ein sehr kleiner Ort, an dem sich sehr viel zeigt. Es gibt ein Riesenunternehmen, dessen Interessen durchgesetzt werden, auch politisch, auch mit Polizeigewalt, und es gibt das höhere Interesse des Umweltschutzes und vor allem des Klimaschutzes. Ich glaube, dass in den letzten Jahren immer mehr Menschen klar geworden ist, dass Klimawandel ein Problem ist, das sehr nah ist, dass wir uns sehr dringend damit beschäftigen müssen. Und ich glaube, dass das eine große Rolle dabei gespielt hat, dass dieser Protest plötzlich so viel größer wurde.


Weitere Themen: Dorf Immerath / Rodungen / ziviler Ungehorsam / Konfliktlinien und Demokratie / Aktivisten und Polizei / Medien / Produktionsbedingungen / Journalisten / Protagonisten / Einfluss von Kameras / Tod eines Bloggers / Möglichkeiten des Dokumentarfilms / aktuelle Lage / Kinostart

Wie gehen die Menschen mit der Zerstörung um?
Für viele Menschen in der Region ist das normal – das haben sie schon immer gesehen, das blendet man aus, glaube ich – und für viele andere ist das sehr schmerzhaft. Das bezieht sich vor allem auf die Menschen in umgesiedelten Dörfern. Ich habe mal gelesen, dass Psychologen das so beschreiben: Der Verlust von Heimat sei wie der Verlust eines geliebten Menschen, und man braucht genauso lange, diesen Trauerprozess durchzumachen, um das zu bewältigen. Für den Protagonisten, den ich verfolge, war das besonders schwer, aber es gibt ja noch fünf Dörfer, die komplett intakt sind, die diesen ganzen Prozess jetzt noch vor sich haben für die nächsten zehn Jahre. Es ist auch die letzten Jahrzehnte für viele Menschen sehr schmerzhaft gewesen – es gibt eine hohe Selbstmordrate dort, es gibt viele Menschen, die das nicht verkraften, die weg müssen, es gibt alte Menschen, die hoffen, sie sterben, bevor sie umsiedeln müssen. Das wurde immer gesehen als ein Problem von wenigen, das man in Kauf nehmen müsse, weil die Energieversorgung der Gesellschaft wichtiger sei. Aber viele Menschen sehen das jetzt nicht mehr ein, weil sie meinen, dass es für die Energieversorgung gar nicht mehr nötig wäre, diese Braunkohle weiter zu fördern – da es ja Alternativen gibt und weil die Braunkohle der klimaschädlichste Energielieferant ist. Dadurch ist es für die Menschen vor Ort noch viel schwieriger geworden, diese Zerstörung zu akzeptieren – weil sie den Sinn darin nicht sehen.

Interview: Jan Schliecker

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