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Wer kommt da noch mit?
Foto: Benni Klemann

„Ich sehe eine große Verwirrung“

30. März 2017

Grünen-Politikerin Renate Künast über globalisierte Politik und ihre Zweifler – THEMA 04/17 Zukunft Jetzt

trailer: Frau Künast, Sie haben unangemeldet Menschen besucht, deren Hass-Postings Sie zuvor ertragen mussten. Was haben Sie dabei gelernt?
Renate Künast
: Ich bin losgegangen, um zu erfahren, was das für Leute sind. Als nach dem Auftauchen von Pegida und der AfD Hass-Postings und Fake-News zugenommen haben, meinten viele, das komme von Menschen, die sozial abgehängt sind. Ich habe gelernt, dass es durchaus wohlsituierte Menschen aus der Mitte der Gesellschaft sind, dass sich nicht nur auf Schulhöfen, sondern auch bei Erwachsenen ein Tonfall findet, der eine Art von Tabubruch darstellt. Bei den meisten sehe ich eine große Verwirrung darüber, wie die Zusammenhänge in dieser Gesellschaft sind und wie Demokratie funktioniert, z.B., warum wir andere retten und was das mit uns zu tun hat. Oder warum in einer europäischen Wirtschaft Griechenland kein Ausland ist, sondern Teil unseres gemeinsamen Wirtschaftsraums, der unsere Lebensbedingungen mitbestimmt. Digitalisierung bedeutet auch, dass viele Menschen in einer Filterblase leben. Wer einmal eine Verschwörung wittert, bekommt diese Einstellung bestätigt.

Wie sind Sie und Ihre Gastgeber auseinandergegangen?

Unterschiedlich. Einige räumten ein, jetzt manches besser zu durchschauen. Ich habe aber selber auch etwas gelernt. Als Otto Normalverbraucher schauen wir Nachrichten aus aller Welt, bringen aber scheinbar nicht genug Empathie auf für die Lebensbedingungen von Menschen in unserem Land. Damit möchte ich nicht für einen neuen Populismus reden, sondern für eine ernsthafte Auseinandersetzung. Es geht darum, den Leuten zu zeigen, dass man sich Gedanken um das Hier macht, aber auch, wie die Dinge miteinander zusammenhängen. Das ist eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft, nicht nur für die Politik. Wir alle müssen uns Gedanken machen, wo uns diese Hasswellen eigentlich hintragen, wie eine respektvolle Gesellschaft in Zukunft funktionieren kann.

Für Sorgen angesichts der Globalisierung gibt es auch gute Gründe. Wie schätzen Sie die Chancen der Politik ein, konkrete Verbesserungen im Alltag zu erreichen?

Renate Künast
Foto: Laurence Chaperon

Zur Person:
Renate Künast ist Bundestagsabgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen. Sie war Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz von 2001 bis 2005 und Vorsitzende der Grünen Bundestagsfraktion von 2005 bis 2013.

In der Verbraucherpolitik frage ich, wie wir uns um die klassischen Alltagsverträge der Menschen kümmern: Es geht um Mobilität, Strom, Kleidung, Wohnen, darum, wie ich mein Geld anlege, ob nur die Profite oben größer werden, oder ob Finanzvorteile auch an die Endkunden weitergegeben werden. Und wir müssen darüber reden, wie sich Wirtschaft modernisiert durch Effizienztechnologie oder erneuerbare Energien. Dazu gehört, beide Seiten anzusprechen. Der Betroffene muss auch bereit sein, sich zu engagieren und weiter zu qualifizieren. Wenn sich Technik und Aufgabenfelder ändern, dann gilt: Das schaffen wir nur gemeinsam.

Interessenausgleich und Gewaltenteilung machen Demokratie aus guten Gründen langsam. Autoritäre Bewegungen dagegen versprechen schnelle Lösungen. Sollte angesichts dieser Konkurrenz auch die Demokratie schneller werden?

In der öffentlichen Darstellung mag es sich um eine Konkurrenz handeln. Aber schauen Sie sich Trump an. Auch gegen seine zweite Einwanderungsverordnung klagen Bundesstaaten und Unternehmen, weil die Welt nun einmal anders funktioniert. Demokratie ist nicht zwingend langsam, sondern sie ist durch Gewaltenteilung, Transparenz und Verfahrensregeln seriöser und gerechter. Was nicht heißt, dass sie nicht verbesserungsfähig wäre.

Was sagen Ihre parlamentarischen Kollegen und Kolleginnen zu den Hausbesuchen bei ihren „Kritikern“?

Viele fanden toll, dass da jemand den Mut hat, hinzugehen und zu reden. Das muss allerdings auch organisiert werden, Adressen rauskriegen, hoffen, dass jemand Zuhause ist. Da investiert man viel Zeit. Aber viele Abgeordnete sind mehr im Land unterwegs als so mancher denkt. Ich will nicht alle Parlamentarier gesundbeten, meine Sorge ist trotzdem, dass Berufspolitiker pauschal als Elite diskreditiert werden. Das Parlament ist voll mit Leuten, die aus einfachen Verhältnissen kommen, um Bildung gerungen und sich weiterentwickelt haben. In den Vorständen großer Firmen finden Sie Leute, die im Traum nicht daran denken würden, sich diesem zeitintensiven Job zu stellen. Die würden sagen: Für so ein Taschengeld mache ich das nicht. Ich verbinde das mit dem Aufruf: Es ist Bürgerrecht, seine Regierung zu kritisieren, in einem normalen Tonfall und in der Sache. Es ist aber auch so, dass wir das, was wir an Demokratie errungen haben, erhalten müssen. Und gerade das ist nicht das Interesse der Rechtsextremen. Die geben vor, für den einfachen Mann zu sein. Aber in Wahrheit wollen sie demokratische Strukturen zerschlagen. Und da würden am Ende nur einige Wenige gewinnen.

Sie haben in einem Beitrag für die taz geschrieben, das offene Gespräch zwischen Skeptikern und Verteidigern der Demokratie müsse auch zu Ergebnissen führen, die den Demokraten wehtun. Was würde Ihnen wehtun?

Ich habe das so formuliert, um zu zeigen, dass miteinander reden keine Einbahnstraße sein kann. Beide Seiten müssen einen Beitrag leisten, damit Veränderungen folgen. Weh tun könnte es dann, wenn man in dem ein oder anderen Bereich seinen Schwerpunkt verändert oder es heißt, das Geld gebe ich nicht für A aus, sondern für B. Es kann heißen, an manchen Stellen habe ich mir vielleicht den falschen Weg vorgestellt, um mein Ziel zu erreichen.

Wer fällt Ihnen ein, wenn Sie an beispielhaftes demokratisches Engagement denken?

Alle Leute, die ehrenamtlich mit Kindern arbeiten, Herr und Frau Namenlos. Alle, die ehrenamtlich mit Flüchtlingen arbeiten. Die leisten einen Beitrag dafür, dass wir in fünf Jahren sagen können, ja, an dieser Stelle ist Integration und miteinander leben gelungen.


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