Als 1979 im deutschen Fernsehen der Vierteiler „Holocaust “ gezeigt wurde, war das ein Medienereignis. Die Ausstrahlung führte zu einer kollektiven Betroffenheit und trotz oder gerade wegen der 68er erstmals zu einem breiten Diskurs in der Bevölkerung. In der nachkriegsdeutschen Vergangenheitsbewältigung führte das zu einer erinnerungsgeschichtlichen Zäsur, die die kollektiven Verdrängungstaktiken allmählich abklingen ließen. Auch die deutsche Filmindustrie blieb von der noch amerikanischen Produktion nicht unberührt. Frei nach dem Motto „Grabe bei dir selbst“ entsteht in den darauffolgenden Jahrzehnten ein ganzer Kanon deutscher Filme, die sich mit dem Nationalsozialismus‘ beschäftigen, mit der DDR-Diktatur, dem Deutschen Herbst, der Verklärung des Wirtschaftswunders oder mit der verkrusteten Nachkriegsgesellschaft.
Auch der Kinomonat März hält den Finger auf die Wunden deutscher Geschichte nach wahren Begebenheiten: „Das schweigende Klassenzimmer“ etwa erzählt die Geschichte einer Oberstufenklasse, die das DDR-Regime wegen einer Schweigeminute als Solidaritätsbekundung an den Volksaufstand in Budapest vom Abitur ausschließen will. Unterdessen widmen sich gleich zwei Filme den Traumata des Nationalsozialismus‘. So versucht Martin Farkas in seinem Dokumentarfilm „Über Leben in Demmin“ den Massensuizid des Städtchens Demmin aufzuarbeiten, welches sich kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs ereignete, während Robert Schwentkes „Der Hauptmann“ mit bitterböser, fast satirischer Machart ein schonungsloses Abbild der hierarchischen Gesellschaft des Dritten Reichs darstellt.
Der deutsche Film über deutsche Geschichte ist heute so längst zum Dauerthema im Kino geworden und wird als Unterhaltungsmedium konsumierbar. Das kann man als Kommerzialisierung kritisieren, doch es steckt – je nach Inszenierung – auch ein gewaltiges Potenzial dahinter, das Filme wie „Das Leben der Anderen“ oder „Der Staat gegen Fritz Bauer“ schon eindrucksvoll unter Beweis stellten. Solche und andere Filmbilder tragen zur Geschichtsschreibung bei. Das mag einen stören, weil diese Bilder alles andere als eine objektive Abbildung von Geschichte sind, aber dies ist bei den Reenactments à la Guido Knopp nicht anders. Geschichtsschreibung ist per se nicht objektiv. Wie jede Dokumentation ist Geschichtsschreibung durch das Subjekt besetzt, jede Bildeinstellung schon ein subjektiv gewählter Ausschnitt der Wirklichkeit. All diese Thesen sind nicht neu, doch sie hebeln die Wichtigkeit der Darstellung von Geschichte im Film für ein Massenpublikum keinesfalls aus. Heutige Geschichtsschreibung berücksichtigt diese Subjektivität allmählich stärker, reflektiert sie und setzt das Subjekt als Zeitzeugen stärker in den Fokus. Das hat dann zwar keinen Anspruch auf eine objektive Wirklichkeit, aber es ist, um ein Modewort zu bemühen, authentisch.
Das zeigt auch die Familiensaga „Zwei Herren im Anzug“ von Josef Bierbichler. Poetisch inszeniert Bierbichler auf Grundlage seiner eigenen Familiengeschichte den bayrischen Gutshof seiner Familie inmitten historischer Umwälzungen in den Jahren zwischen 1914 und 1984 – (eine) Geschichte, die übertragbar ist und damit etwas Universelles und Identifikationsstiftendes bekommt. Die Unterhaltung schwingt also mit. Darf sie das? Bertolt Brecht würde widersprechen. Ich bin mir da nicht so sicher.
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