Juli 2017 im thüringischen Themar: 6.000 Neonazis feiern ungestört eine rechtsextreme Party und freuen sich, mit pfiffigen T-Shirt-Aufrucken wie „HKNKRZ“ den Rechtsstaat zu foppen. Ungestört? Fast. Außer 300 mutigen GegendemonstrantInnen ist da noch Nemi El-Hassan, Anfang 20, anhand ihres Kopftuchs deutlich als Muslima erkennbar. Sie ist unterwegs für das Format „Jäger & Sammler“ von funk, dem jungen Medienportal von ARD und ZDF. Vor laufender Kamera nimmt sie Veranstalter und Neonazi-Aktivist Tommy Frenck in seiner Kneipe in die Mangel. Inmitten von NS-Souvenirs konfrontiert Nemi, deren Eltern aus dem Libanon stammen und die selbst in Deutschland geboren ist, Frenck mit der Frage, ob sie für ihn eine Deutsche sei. Frenck antwortet: „Nein, Sie sind Libanesin. Man kann eine Staatsbürgerschaft haben, aber man ist, was man durch Geburt ist“. Verstanden? Ich auch nicht.
Hier soll es ohnehin nicht um krude, nationalistische Ideologien gehen, sondern um zivilgesellschaftliches Engagement von MuslimInnen in Deutschland. Sie engagieren sich unabhängig von ihrem Glauben ehrenamtlich in (Sport)Vereinen oder schließen sich gerade aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit liberalen Verbänden wie dem Muslimischen Forum Deutschland oder dem Liberal Islamischen Bund an, wo sie sich klar zu einer Islamauffassung positionieren, die gesellschaftliche Pluralität anerkennt. Andere treten bewusst öffentlich als MuslimInnen in Erscheinung, setzten sich aber für oder gegen etwas ein, was auch die sogenannte deutsche Mehrheitsgesellschaft betrifft und mit dem Islam nur indirekt (Terror) oder nichts (Rechtsextremismus) zu tun hat. Nemi El-Hassan ist dafür ein gutes Beispiel. Neben ihrer Tätigkeit für Jäger & Sammler, wo sie auch gerne rechte Rapper interviewt und deren widersprüchliche Weltanschauung mit der Realität konfrontiert, ist sie auch bei den Datteltätern aktiv, ein YouTube-Format, das mittels Satire versucht, Klischees und Vorurteile gegenüber MuslimInnen und dem Islam abzubauen.
Unter den MuslimInnen, die in zweiter und dritter Generation in Deutschland leben, gibt es nicht nur die Demokratieverweigerer, die in Intergrationsdebatten gern hervorgehoben werden. Auch die Initiative JUMA – das steht für jung, muslimisch, aktiv – möchte muslimische Jugendliche für demokratische Partizipation begeistern und das auch sichtbar machen. JUMA richtet sich an 17- bis 25-jährige MuslimInnen unterschiedlicher Rechtsschulen (Sunniten, Schiiten, Sufiten etc.), Glaubenspraxen (liberal bis orthodox) und Herkunftsländer (mit und ohne Migrationshintergrund) und setzt sich für Vielfalt im Islam und interreligiösen Dialog mit anderen Glaubensrichtungen ein.
Aber wie kompatibel ist der Islam überhaupt mit der Demokratie? Seit Christian Wulff 2010 sagte: „Der Islam gehört zu Deutschland“ wird diese Frage kontrovers diskutiert, zugespitzt durch die islamistischen Terroranschläge der letzten Jahre. Wer die Debatte um die Vereinbarkeit von Grundgesetz und Scharia, die Rolle der Frau oder Homosexualität im Islam verfolgt, stößt als Nicht-Muslim schnell an die Grenzen der Koranexegese. Schon seit Beginn islamischer Modernisierungsbestrebungen im 19. Jahrhundert herrscht innerhalb des Reformlagers Uneinigkeit. Islamische TheologInnen, IslamwissenschaftlerInnen und praktizierende MuslimInnen streiten weltweit darüber, ob und wie aus der heiligen Schrift die Reformfähigkeit des Islam abzuleiten ist. Von denen, die keine Reformen, sondern die Deutungshoheit mit Gewalt erringen wollen, ganz zu schweigen. Zwar führte auch das Christentum blutige Religionskriege, um zu einer friedlichen Koexistenz der konfessionellen Lager zu gelangen und halbwegs in der Moderne anzukommen. Aber als Luther seine Thesen an die Kirchentür nagelte, gab es weder soziale Massenmedien, noch die Waffentechnolgie, Massenmorde zu begehen.
Was kann eine Atheistin ohne Arabischkenntnisse da beitragen? Zum Beispiel den Schulterschluss mit engagierten MuslimInnen für gemeinsame Ziele suchen, die nichts mit Religion zu tun haben. Der Rechtsruck und anti-demokratische Entwicklungen in einigen europäischen Ländern, in der Türkei und in den USA unter Trump zeigen, dass die westlichen Demokratien nicht durch den Islam bedroht werden. Die Jugend für die Vorzüge der demokratischen Ordnung zu begeistern ist eine Herausforderung, vor der nicht nur die muslimische Community in Deutschland, sondern wir alle stehen.
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zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema
Aktiv im Thema
juma-ev.de | Die Initiative jung, muslimisch, aktiv fördert das zivilgesellschaftliche Engagement junger MuslimInnen
lib-ev.jimdo.com | Der liberal islamische Bund vertritt den Islam als Teil einer pluralistischen Gesellschaft
youtube.com/user/12thmemorise | Gruppe junger MuslimInnen, die sich gegen islamistischen Terror einsetzen
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