trailer: Herr Dormann, Arbeit soll heute sinnstiftend und selbstverwirklichend sein und Spaß machen. Wie haben sich diese Ansprüche entwickelt?
Christian Dormann: Ich hole mal weit aus: In den 1970ern hat es eine große Studie gegeben, die Shell-Studie. Das Ergebnis dieser Studie, die inzwischen 50 Jahre alt ist, war, dass die Jugend einen Wertewandel erlebt hat: von materiellen zu postmateriellen Werten. Wenn wir heute über Work-Life-Balance statt Karriereorientierung reden, dann reden wir über etwas, dass wir eigentlich schon seit 50 Jahren beobachtet haben. Dass jüngere Leute postmaterielle Werte anstreben, wie etwa die Fridays-for-Future-Bewegung, das gibt es schon sehr viel länger, etwa seit Ende des 2. Weltkriegs. In der Forschung der 80er Jahre hatte man festgestellt, dass viele junge Leute eher freizeitorientiert sind und sich alternativ engagieren wollen – die Forschung hat aber auch eindeutig gezeigt: Wenn sie erst einmal in einem Unternehmen sind, kippt das innerhalb des ersten halben Jahres. Typischerweise ist es so, dass sich die Freizeitorientierung nach dem Eintritt in den Beruf wandelt und die Leute werden doch eher karriereorientiert – was nicht mit „Geldgeilheit“ gleichzusetzen ist, sondern einfach heißt: Ich will was leisten, will Verantwortung übernehmen, will mein eigener Herr sein. Das kippt typischerweise ziemlich schnell, aber jetzt in Zeiten der Pandemie, verbringen die Leute selbst im Praktikum fünf ihrer sechs Wochen im Homeoffice. Das alles funktioniert im Moment überhaupt nicht mehr, von daher bleibt nur diese Alternativorientierung, die es bei jungen Leuten schon seit dem Zweiten Weltkrieg, spätestens seit den 1960er Jahren gibt. Die bleibt meiner Meinung nach jetzt einfach viel länger erhalten, weil das typische Berufsleben der letzten zwei Jahre einfach nicht mehr so funktioniert, wie es sonst funktioniert hat.
„Home Office ist für viele eine Pest – sie wissen es nur nicht“
War die Zufriedenheit mit dem Arbeitsplatz zuvor größer. Oder haben sich frühere Generationen einfach nicht laut genug beklagt?
Ich würde sagen, die Arbeitszufriedenheit fluktuiert immer ein bisschen, aber es ist eigentlich schon seit den 1950er Jahren so, dass die wirklichen Zufriedenheitsmacher bei der Arbeit eine interessante Tätigkeit und ein gutes soziales Miteinander waren. Wenn man heute also sagt „Eine interessante Tätigkeit, das hat meine Großeltern noch nicht interessiert“, ist das falsch. Für Arbeitszufriedenheit sind im wesentlichen zwei Dinge wichtig: Was bringe ich mit ein, und was bekomme ich dafür? Wobei letzteres nicht nur Geld meint, sondern auch Sicherheit, Spaß bei der Arbeit oder andere Dinge, das „Return of Investment“, sozusagen. Viele Leute denken , „ich habe ein Hochschulstudium und muss automatisch einen hochinteressanten Job mit super Bezahlung haben“. Die Rechnung geht aber eben nicht mehr auf, wenn man die zweite Komponente, den sozialen Vergleich nicht mehr hat. Wennn ich als Hochschulabgänger einen Job habe bei dem ich 1800 Euro ausgezahlt bekomme, posaune ich das nicht über Facebook raus. Wenn jetzt aber einer der vor zwei Jahren seinen Bachelor gemacht hat, mit dem Porsche vorfährt, da sieht man die Hochglanzbilder natürlich schon. Das weckt einfach falsche Erwartungen und meiner Meinung nach ist Homeoffice für viele Beschäftigte eine Pest – sie wissen es nur nicht. Die wichtigste soziale Vergleichsgruppe sind die Leute im gleichen Betrieb, in der gleichen Abteilung, die das gleiche machen. Das sind die, die den Standard setzen, an dem ich mich neben meinem eigenen Input, meiner Arbeitszeit, meiner Qualifikation orientiere, was für die Arbeitszufriedenheit relevant ist. Man kann auch sagen, die Leute werden heute nicht mehr eingenordet.
„Burn-Out ist der Rückenschmerz des 21. Jahrhunderts“
Sie beschäftigen sich mit dem Phänomen des Burn-Out. Ist das wirklich zur Volkskrankheit geworden?
Belegbar ist das nicht direkt, weil es in der International Classification of Diseases, der ICD, keine eindeutige Diagnosekriterien gibt. In der neuesten Version ICD-11 wird Burn-Out seit knapp zwei Jahren als ein „berufsbezogenes Phänomen“ aufgeführt. Es werden ein paar Symptome beschrieben, aber es gibt noch keine klaren diagnostischen Kriterien, weil es eben nicht als Krankheit bezeichnet wird, deshalb kann man nicht verlässlich sagen, ob es zugenommen hat. Der Verdacht liegt allerdings nahe, weil sich die Belastungen im Job verändert haben. Ich sage mal, Burn-Out ist der Rückenschmerz des 21. Jahrhunderts. Bevor wir in den 1980er Jahren langsam zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft wurden, kannte über Ecken jeder jemanden, der in der Landwirtschaft arbeitete, oder Arbeiter war. Körperliche Tätigkeiten fallen durch die technische Entwicklung weg und jetzt im 21. Jahrhundert sind es eher Phänomene wie Zeitdruck oder das, was wir Emotionsarbeit nennen, bei der zwischenmenschlicher Umgang Teil der Dienstleistung ist, etwa die ganzen Pflegeberufe. Da geht es ja nicht nur darum, dass sich niemand wundliegt, sondern auch darum, mit den Leuten zu reden, sie ein bisschen glücklich zu machen, ein offenes Ohr zu haben. Emotionsarbeit und starke kognitive Belastungen, also Konzentrationsanforderungen und Zeitdruck, sind tatsächlich mit Burn-Out assoziiert, körperliche Anforderungen hingegen überhaupt nicht. Da sich die Anforderungen verändert haben, kann man auch davon ausgehen, dass es tatsächlich auch zu mehr Burn-Out kommt.
„Ständig lächeln zu müssen ist durchaus anstrengend“
Gibt es Faktoren, die besonders oft als Quelle für Stress oder Frust empfunden werden?
Das sind ganz häufig die Vorgesetzten, definitiv. Gerade in Deutschland folgen Vorgesetzte immer noch vielfach einem „Command and Control“-Ansatz, auch wenn sich das langsam ändert. In bestimmten Bereichen mag das effektiv sein, aber eigentlich hat man heute andere Vorstellungen, und es zeigt sich auch in der Forschung, dass erfolgreiche Führung eher mitarbeiterorientiert als aufgabenorientiert ist – so die ganz einfache Unterscheidung, die man da treffen kann. Es schadet nicht, aufgabenorientiert zu sein – also Aufgaben klar zu definieren, zu strukturieren und zu verteilen – aber Mitarbeiterorientierung meint, ein offenes Ohr zu haben, Entwicklungsmöglichkeiten zu geben, auch mal zur Seite zu stehen. Beides ist mit Mitarbeiterleistung verbunden, deswegen: Das eine schadet nicht, das andere nützt auch was. Fehlt die Mitarbeiterorientierung aber – in dem Sinn, dass Vorgesetzte nicht zur Verfügung zu stehen, unsichtbar bleiben, vielleicht auch Mitarbeiter unfair behandeln, den einen die schönen Jobs zuzuschachern und den anderen nicht – dann sind Vorgesetzte ganz wesentlich daran beteiligt und das ist eine der größten Widrigkeiten. Die zweite große Widrigkeit ist heute sicherlich, ständige Kontrolle der eigenen Emotionen ausüben zu müssen: Ständig zu lächeln, weil der Kunde ja König ist, das ist durchaus sehr anstrengend. Es gibt Jobs, da wird man gut darauf vorbereitet, Flugbegleiter etwa, die leiden da auch nicht so stark darunter – aber es wird ja heute in jedem Dienstleistungsjob verlangt. Der Schuhverkäufer hat das in seiner Ausbildung nicht gelernt – der kennt sich mit Fußbetten aus und verschiedenen Schuhtypen, aber er ist nicht darauf vorbereitet worden, mit schwierigen Kunden umzugehen. Auch das ist eine Form von sozialer Widrigkeit. Auch nicht unbedeutend ist, dass man teilweise mehrere Jobs unter einen Hut bekommen muss. Faktisch ist es so, dass heutzutage weniger wöchentliche Arbeitszeit aufgewendet werden muss, als vor hundert Jahren, aber auch so, dass die Zeit, die wirklich vollständig zur eigenen Verfügung steht, abgenommen hat. Viele Leute haben wirklich wenig Zeit für selbstbestimmte Erholung. Das ist keine Widrigkeit, die durch den Job allein verursacht wird, das hat viele verschiedene Ursachen. Mein Großvater, der unter Tage gearbeitet hat, war vielleicht vierzehn Stunden am Tag nicht da, aber wenn er nach Hause kam, konnte er machen was er wollte. Das Essen war vorbereitet, der musste keine Kinder bespaßen und ins Bett bringen – er war sein eigener Herr und das ist heutzutage kaum noch jemand.
In den USA ist im Zuge der Pandemie das Phänomen der „Great Resignation“ bekannt geworden. Was steckt dahinter?
Ich glaube, das hängt ein bisschen damit zusammen, was wir ganz am Anfang diskutiert haben: Die Ansprüche an den Job sind höher geworden und ich glaube eben auch – belastbare Zahlen dazu gibt es nicht – dass es durch die Pandemie an Realismus fehlt, an sozialen Vergleichsmöglichkeiten. Wir haben seit Jahren einen Arbeitnehmermarkt, das heißt, Arbeitnehmer die ausreichend qualifiziert sind, oder glauben das zu sein, können sich ihren Arbeitgeber aussuchen, im IT-Bereich etwa. Ich glaube, es war der australische Außenminister der sagte, dass es sich eigentlich nicht um eine „Great Resignation“ handelt, sondern um einen „Great Reshuffle“: Die Leute orientieren sich neu, die gehen nicht alle freiwillig in die Arbeitslosigkeit, sondern sie suchen sich eben einen neuen Job, gerade die höher Qualifizierten. Tatsächlich haben die Kündigungsraten in Amerika drastisch zugenommen, sind aber auf einem Niveau, wo sie vor zwanzig Jahren auch schon mal waren. Diesen Trend hat Corona nicht in Gang gesetzt, die Pandemie mag ihn beschleunigt haben, aber in Amerika war es schon immer so, dass man viel, viel häufiger den Job gewechselt hat, als in Europa.
Ist diese Entwicklung auch in Deutschland spürbar?
Man sagt ja immer, wir hängen den Amerikanern so zehn, fünfzehn Jahre hinterher, in diesem Bereich mag das auch stimmen: Jobs werden auch bei uns nun deutlich häufiger gewechselt, als das noch vor 30 Jahren der Fall war, aber die Deutschen kleben noch ein wenig mehr an ihrem Job, insbesondere wenn es ein Job ist, der auch zur eigenen Ausbildung passt. Also wenn man mal Fernsehtechniker gelernt hat, bleibt man das auch und wird nicht einfach zum Oberpfleger in der Pflege. In Amerika haben sie diese Ausbildungssystem nicht, dort identifiziert man sich als Arbeitnehmer auch weniger mit einer Profession als mit dem Arbeitgeber. In Deutschland haben wir eben noch ein professionelles Denken, das sich an der Tätigkeit orientiert. Mit anderen Worten, sie werden hier wahrscheinlich nie so häufige Jobwechsel beobachten können wie in Amerika, man hat aber coronabedingt die Tendenz dazu gesehen. Die Gastronomie hat etwa von Leuten aus Osteuropa und Studenten gelebt, die haben sich mittlerweile eben auch andere Jobs gesucht. „Great Resign“ ist in Amerika ein großes Stichwort, aber auch da halte ich es für überbewertet, auch ich sehe eher einen „Reshuffle“, das ist ein guter Begriff.
„Viele Hochqualifizierte haben ein Netz mit doppeltem Boden“
Wie lässt sich ein erstarkter Wille zur Neuorientierung in wirtschaftlich unsicheren Zeiten erklären?
Ich denke da muss man unterscheiden, ob die Leute gut qualifiziert sind, oder nicht. Dass hochqualifizierte Middle-Ager ausgestiegen sind, das hat es immer schon gegeben. Ich habe von einem Zahnarzt gehört, der auf Bali Freunde besucht hat und über Nacht sein Haus verkauft hat und nach Bali ausgewandert ist. Seine Praxis und seine Angestellten behält er und wenn es schief geht, kommt er eben wieder. Auf den ersten Blick ein Anzeichen von „Great Resign“, aber er hat ein Netz mit doppelten Boden. Das gilt für viele, die qualifiziert sind. In Banken etwa sind während der Finanzkrise viele entlassen und zwei Jahre später wieder eingestellt worden, nur mit deutlich mehr Gehalt, weil man die Leute händeringend gesucht hat. Für die gut Qualifizierten ist das definitiv möglich, bei den gering Qualifizierten sehe ich eher eine gegenläufige Tendenz. Wer in diesem Sektor alle zwei Monate den Job wechselt, wird eher Probleme haben, überhaupt noch einen Job zu bekommen, selbst wenn man in der Landwirtschaft oder der Gastronomie Leute händeringend sucht, weil man so unstet erscheint, dass der Arbeitgeber befürchten muss, sich einen Problemfall an Bord zu holen. Von daher würde ich sagen, ist es ein weiteres Beispiel dafür, wie die soziale Schere auseinandergeht. Die Hochqualifizierten nutzen die Chance zur Neuorientierung relativ risikolos, die haben ihr Rettungsnetz immer dabei. Für Gering-Qualifizierte ist die Situation hingegen tatsächlich schwierig, die müssen ihre „widrigen“ Jobs behalten, weil sie dieses Netz nicht haben.
„Viele Führungskräfte haben sich von ihren Mitarbeitern entfernt“
Wie begegnen Arbeitgeber dieser Entwicklung?
Es gibt einen Führungsstil, der als Laissez-faire bekannt ist, der aus dem Bereich der Erziehungswissenschaften und der anti-autoritären Erziehung kommt, und darauf hinausläuft, dass man lässt die Leute einfach machen lässt. Ich glaube, dass viele Führungskräfte jetzt in Zeiten der Pandemie zu diesem Laissez-faire-Stil übergegangen sind, die haben die Leute zuhause einfach machen lassen. Die haben eben nicht mehr aufgabenorientiert geführt, nicht mehr Ziele gesetzt, nicht auf Einhaltung gepocht oder den Fortschritt jeden Tag überprüft. Viele Führungskräfte haben sich zunehmend von ihren Mitarbeitern entfernt, deswegen haben viele von ihnen meines Wissens nach überhaupt keinen Draht dazu, spüren überhaupt nicht, was ihre Mitarbeiter für Anforderungen haben. Die, die es vielleicht merken, das sind die Personalabteilungen, die horchen auch schon mal nach, warum jemand den Job gewechselt hat, oder warum jemand den Job nicht angenommen hat. Ich glaube, die sind enger an den Erwartungen der Arbeitnehmer dran.
„Geld ist ein gutes Lockmittel – es motiviert aber nicht sehr lang“
Von Arbeitgebern hört man verstärkt Klagen über „mangelndes Arbeitsethos“. Wie kommt das?
In Befragungen dazu, was die Leute von ihrem Arbeitgeber erwarten, insbesondere eben auch Hochschulabgänger, ist das Wort „Work-Life-Balance“ bis vor zehn, fünfzehn Jahren nicht aufgetaucht. Damals kannte das noch niemand, heute steht es ganz oben. Es gibt also einen Wandel in dem, was vom Job erwartet wird , gleichzeitig werden Jobs immmer weiter professionalisiert, so dass das mit der Work-Life-Balance immer schwieriger wird. Meiner Meinung nach kann man mit einer 20-Stunden Woche kein CEO eines Unternehmens sein. Wenn man die Tätigkeiten, die da anfallen, auf mehrere Leute verteilt, dann hat man einen derart hohen Koordinationsaufwand, das geht nicht. Von daher hat man bei Führungspositionen den Widerspruch dass sie hochkomplexe Tätigkeiten haben mit vielen Arbeitsstunden, für die viel Geld bezahlt wird, aber weniger Beschäftigte die bereit sind, das auch zu machen. Das Problem ist bereits um die Jahrtausendwende ein Thema geworden, auch wenn vor 20 Jahren noch das Wort dafür noch fehlte. Die Arbeitgeber versuchen sich darauf einzustellen, mit flexiblen Arbeitsbedingungen etwa. Ich habe vor ein paar Jahren den Adidas-Campus in Herzogenaurach besucht: Jeder dort hätte schon vor fünf Jahren Homeoffice machen können – jeder, auch die Mitarbeiter der Produktion, denen hätte man die Nähmaschinen ins Wohnzimmer stellen können. Dort haben sie sich bemüht, rundum Arbeitsbedingungen zu schaffen, dass man wirklich gerne zur Arbeit geht. Großkonzerne wie Adidas oder auch Google können sich das leisten, die kleinen Mittelständler in Deutschland aber nicht. Die sitzen auch oft noch an unattraktiven Standorten, wo es etwa für den Lebenspartner zunehmend schwierig wird, einen adäquaten Job zu bekommen. Die haben tatsächlich ein massives Problem, insbesondere im höherqualifizierten Bereich und der Ausbildungsstruktur. Inzwischen sind es 50 Prozent pro Jahrgang, die an die Hochschulen drängen, kaum jemand macht noch eine Ausbildung. Das ist für die Arbeitgeber ein massives Problem, das sich auch mit Geld nicht wirklich lösen ist. Geld ist ein wirklich gutes Lockmittel, aber es motiviert nicht sehr lang.
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