Der arme Janus. Schaut er zurück auf 2016, möchte er sich angesichts des wachsenden Hasses und des immer tiefer gehenden Risses durch die Gesellschaft nur noch abwenden. Blickt er nach vorn auf 2017, möchte er den dreckigen Wahlkämpfen und einem auseinanderbrechenden Europa entfliehen. So dreht sich der Doppelgesichtige schneller und schneller um die eigene Achse. Hoffentlich übergibt er sich nicht.
Da dies der Film-Vorspann ist, stellt sich die Frage, wie sich das Kino zur gesellschaftlichen Lage verhält. Zeitzeuge oder Eskapist? Ein Blick auf die Top 50 der Kinofilme 2016 offenbart vor allem tierisches Animationsvergnügen und Teil 2,3,4,5, Spin-off bekannter Stories. Auch 2017 treffen Kinogänger auf alte Bekannte: „Guardians of the Galaxy“ und „Blade Runner“ zum zweiten. „Thor“, „xXx“, „Planet der Affen“ und „Spider Man“ zum dritten (letztere ohne ihre jeweiligen Vorgänger mit Mr. From-my-cold-dead-hands und Tobey Maguire mitzuzählen). „Insidious“ zum vierten. „Transformers“ und „Pirates of the Carribean“ zum fünften. „Resident Evil“ zum sechsten. Zum siebten fehlt. Dafür aber „Star Wars“ und „Saw“ (echt jetzt?) zum achten. Nicht zu vergessen Sequels, Prequels, Reboots mit der Mumie, Rings und Alien. Und der Zwitter „The Lego Batman Movie“! Ob dieser Lauf von eins bis acht, vorwärts, rückwärts, seitwärts kritisch als Ideen- und Mutlosigkeit oder positiv als die Fortführung erfolgreicher ergo gewünschter, geliebter Geschichten gewertet wird, ist den geneigten Kinogängern überlassen.
Nach einem groben Blick auf 2016 und 2017 scheint das Kino seine eigene Realität jenseits der gesellschaftspolitischen Situation zu schaffen. Unter den Top 50 des letzten Jahres sticht allein die deutsche Produktion Toni Erdmann heraus, die beim Europäischen Filmpreis fast alle Auszeichnungen eingeheimst hat. Scheut das Kino seine Verantwortung? Nach einem dezidierteren Blick strafen Filme wie „Seefeuer“, „Les Sauteurs“, „Ta’ang“, „Raving Iran“ der implizierten Aussage dieser Frage Lügen. Mehr noch als die Filme tun dies die Kinos im Ruhrgebiet mit ihrer engagierten Arbeit. Das Endstation Kino in Bochum-Langendreer rief eine politische Reihe „Kino Global“ ins Leben. Wie das Kino im U und das sweetSixteen in Dortmund lädt das Endstation regelmäßig zu offenen Filmvorstellungen ein, bei denen Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund, mit oder ohne Fluchterfahrung ins Gespräch kommen und das bislang Andere kennenlernen. Neben Essen und Fußball kann kaum etwas besser Grenzen überwinden als Kino.
Grenzen zu überwinden, wieder näher zusammenzurücken, gleich welcher Nation, Religion, Geschlecht, ist angesichts der Ereignisse des letzten Jahres und dem, was für 2017 prognostiziert wird, das beste Rezept, um sich nicht wie der arme Janus schwindelig zu drehen. Ein beispielhaftes Rezept für Januar: Einmal „Rogue One“ in 3D mit allem was dazu gehört, um abzuschalten und einmal „Atomic Falafel“ im sweetSixteen oder „Oh Boy“ im Endstation, um sich aktiv einzuschalten. In diesem Sinne auf ein tolles 2017, in dem wir mit dem Blick nach hinten dennoch zuversichtlicher nach vorne schauen und nicht erfüllen, was unausweichlich erscheint!
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