Der Protagonist Holappa aus Aki Kaurismäkis neuem Film „Fallende Blätter“ kommt wie Travis Bickle aus „Taxi Driver“ (1976) aus der klassischen Arbeiterklasse. Auch er versucht, eine Frau im dunklen Licht des Kinosaals zu erobern. Beiden wurde gerade gekündigt, beiden treffen sich zufällig in einer Karaoke-Bar. Bis sie merken, dass sie sich gegenseitig gut tun könnten oder gar lieben, vergeht aber noch etwas Zeit. Und dann fangen die Probleme erst richtig an. Nicht nur, weil Holappa immer einen Flachmann dabei hat. „Fallende Blätter“ wäre kein echter Kaurismäki-Film, wenn er sich nicht mit großem Herz den „kleinen Leuten“, der Arbeiterklasse mit all ihren Problemen und den Ungerechtigkeiten, mit denen sie sich abmühen muss, widmen würde. Und so wird „Fallende Blätter“ auch als vierter Teil von Kaurismäkis Arbeitertrilogie angekündigt. Tatsächlich ähneln sich inhaltlich alle seine Filme in einem leicht pessimistischen Humanismus, der mit leisem Humor immer auf der Seite seiner Protagonist:innen steht und mit einem radikalen Reduktionismus einhergeht, der in einer immer komplexeren, schnelleren und auch zunehmend überladenen Welt keine Einstellung, kein Detail im Setting (legendär Kaurismäkis einheitliche Farbgestaltung) und auch kein Wort und keine Mimik zu viel enthält. Die Essenz des menschlichen Daseins, die am Ende auf der Leinwand zu sehen ist, trifft das Publikum unmittelbar und umso tiefer. In seinem Alterswerk keimt zudem ein wenig Optimismus.
Die Tagesklinik Adamant auf einem Boot in Paris ist Anlaufstelle für Menschen mit psychischen Problemen. Die Mission: gegen die Entmenschlichung in der Psychiatrie anschwimmen. Nicolas Philibert hat der einzigartigen Einrichtung mit seinem Dokumentarfilm „Auf der Adamant“ ein großartiges Denkmal gesetzt, das dieses Jahr mit dem Goldenen Bären auf der Berlinale belohnt wurde. Einfühlsam und voller Respekt vor der psychischen Diversität der Menschen gibt er den unterschiedlichen Protagonisten Raum, die auf der Adamant ein- und ausgehen. Im therapeutischen Zentrum steht die Kunst und die individuelle Ausdrucksweise, wunderbar sind die Performances und Interpretationen der Werke der Patient:innen. Das ist zutiefst human, auch witzig und immer voller Aufrichtigkeit. Ein berührendes Plädoyer für mehr Menschlichkeit.
„Sieben Winter in Teheran“, der erste lange Dokumentarfilm der an der Kölner KHM ausgebildeten Regisseurin Steffi Niederzoll, war auf der diesjährigen Berlinale einer der emotional berührendsten Filme des Festivals. Nun kommt die Geschichte der 2014 nach sieben Jahren Gefängnis und Folter wegen Mordes zum Tode verurteilten Studentin Reyhaneh Jabbari, die ihren Vergewaltiger in Notwehr getötet hatte, ins Kino – und trifft uns nicht nur mitten ins Herz. Denn der aus aktuellen Interviews mit Reyhanehs Familie und ehemaligen Gefängnisgenossinnen sowie aus dem Iran unter Todesgefahr herausgeschmuggelten Handy-Aufnahmen und (vorgelesenen) Auszügen aus Reyhanehs Briefen montierte Film macht gleichzeitig wütend, weil er uns verstörend und beschämend zugleich unsere Ohnmacht gegenüber einem frauenverachtenden Regime vor Augen führt.
Es sind vor allem die langsamen, farbintensiven Kameraeinstellungen, die Jan Schmidt-Garres Dokumentation „Das Versprechen – Architekt BV Doshi“ prägen. Sie verweilen auf den Gebäuden, zu denen der Protagonist des Streifens, Balkrishna Doshi, Erläuterungen gibt, lassen sie für sich sprechen. Damit passen sie zu Doshis Charakter: Er spricht stets ruhig und bedacht, einmal verweilt die Kamera minutenlang auf ihm, während er meditiert und Atemübungen macht. Damit ist Schmidt-Garres Dokumentation in erster Linie ein Kunstfilm, der das Wesen der Architektur Doshis einfängt und widerspiegelt. Gleich zu Beginn etwa definiert der Architektur als „eine Reise, eine Entdeckung davon, wer du wirklich bist“. Dementsprechend sind seine Entwürfe offen, sie vermischen sich mit den natürlichen Elementen und geben Raum zum Atmen sowie zur freien Entfaltung.
Außerdem neu in den Ruhr-Kinos: Kenneth Branaghs ungewohnt düstere, dritte Poirot-Verfilmung „A Haunting in Venice“, Lukas Borchers' engagierte Flussfahrt mit Tun „Kurs Südwest“, Roger Avarys blutiges Gangsterstück „Lucky Day“, Michale Boganims völkerverbindendes Grenz-Drama „Tel Aviv - Beirut“, Nimród Antals solides Thriller-Remake „Retribution“, Dany Boons Liebes-Klamauk „Voll ins Leben“ und Finn Christoph Stroeks' und Lena May Grafs bedingt besserer Hochzeits-Kuddelmuddel „Trauzeugen“.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Der Tod sind wir
Die Filmstarts der Woche
Meister des Sensenhumors
Cartoonist Michael Holtschulte präsentiert seine Werke bei kunstwerden in Essen
Die mit dem Brokkoli kuschelt
Mina Richman in Recklinghausen – Musik 04/24
Auf Tuchfühlung
Indie-Rocker LEAP in Dortmund – Musik 04/24
Utopie und Verwüstung
„The Paradise Machine“ in Dortmund – Ruhrkunst 04/24
„Die Realitäten haben sich verändert“
Die Kuratorinnen Özlem Arslan und Eva Busch über die Ausstellung zur Kemnade International in Bochum – Sammlung 04/24
Wiederentdeckt
Werke von Amerikas erster schwarzer Klassikerin in Essen – Klassik an der Ruhr 04/24
Die Seele geraubt
„Hello Dolly“ am Gelsenkirchener MiR – Musical in NRW 04/24
„Ich wollte die Geschichte dieser Mädchen unbedingt erzählen“
Karin de Miguel Wessendorf über „Kicken wie ein Mädchen“ – Portrait 04/24
Tödlicher Sturm im Wurmloch
„Adas Raum“ am Theater Dortmund – Prolog 04/24
Das Unsichtbare sichtbar machen
Choreographin Yoshie Shibahara ahnt das Ende nahen – Tanz in NRW 04/24
Vorläufige Utopien
Danny Dziuk & Verbündete im Dortmunder Subrosa – Musik 04/24
„Mehr Freude und mehr Liebe, was anderes hilft nicht“
Musikerin Dota über die Dichterin Mascha Kaléko und den Rechtsruck in der Gesellschaft – Interview 04/24
Außerhalb der Volksgemeinschaft
Vortrag über die Verfolgung homosexueller Männer in der NS-Zeit in Dortmund – Spezial 04/24
Lauter träumen, leiser spielen
Rotem Sivan Trio im Dortmunder Domicil – Musik 04/24
Grenzen überwinden
„Frieda, Nikki und die Grenzkuh“ von Uticha Marmon – Vorlesung 04/24
Orchester der Stardirigenten
London Symphony Orchestra in Köln und Düsseldorf – Klassik am Rhein 04/24
Ins Blaue
„Planet Ozean“ im Gasometer Oberhausen – Ruhrkunst 04/24
Glaube und Wissenschaft
Louisa Clement im Kunstmuseum Bonn – Kunst in NRW 04/24
„Ruhrgebietsstory, die nicht von Zechen handelt“
Lisa Roy über ihren Debütroman und das soziale Gefälle in der Region – Über Tage 04/24
Mackie im Rap-Gewand
„MC Messer“ am Theater Oberhausen – Tanz an der Ruhr 04/24
Weltweit für Menschenrechte
Teil 1: Lokale Initiativen – Amnesty International in Bochum
Sichtbarkeit vor und hinter der Leinwand
Das IFFF fordert Gleichberechtigung in der Filmbranche – Festival 04/24
Absurde Südfrucht-Fabel
„Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/24
Von Minenfeldern in die Ruhrwiesen
Anja Liedtke wendet sich dem Nature Writing zu – Literaturporträt 04/24