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Maike Finnern
Foto: GEW

„Eindeutig ein Defizit bei der Demokratiebildung“

28. Dezember 2022

GEW-Vorsitzende Maike Finnern über gerechte Schulbildung – Teil 2: Interview

trailer: Frau Finnern, wie wird an deutschen Schulen Wirtschaftswissen vermittelt?

Diese Frage lässt sich nicht ganz einfach beantworten, weil das Thema sehr differenziert ist. Das beginnt mit großen Unterschieden zwischen den Ländern, gilt aber auch für jede Schulform. Teils sind die Inhalte integriert in Fächer wie Sozialwissenschaft und/oder Politik. In einigen Bundesländern gibt es auch ein Pflichtfach Wirtschaft. An anderer Stelle gibt es das Fach Arbeitslehre. Man kann diese Frage also nicht allgemein und bundesweit einheitlich beantworten. Aber je mehr man Richtung Gymnasium schaut, desto mehr Wirtschaft findet man im Lehrplan. Eine andere Frage ist für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), was wir mit dem Fach Wirtschaft in der Schule wollen. Es geht viel zu oft einseitig um die Vermittlung wirtschaftlicher Kenntnisse, eine wirkliche Arbeitnehmerperspektive kommt zu kurz. Politische Aspekte sind unterrepräsentiert, es gibt eindeutig ein Defizit bei der Demokratiebildung.

Inwiefern hat Schulbildung Einfluss auf die gesellschaftliche Kluft zwischen Arm und Reich?

Hier muss man grundsätzlich etwas am System drehen, denn bis jetzt ist es immer noch so, dass der Bildungserfolg sehr eng mit dem Elternhaus, dem familiären Hintergrund verbunden ist. Die Gesellschaft muss sich die Frage stellen, wie es gelingen kann, das aufzubrechen. Es ist immer noch so, dass die Schulen sehr unterschiedliche Unterstützung erfahren und erhalten. Die Verringerung der gesellschaftlichen Kluft zwischen Arm und Reich wird erst dann gelingen, wenn alle die gleichen Chancen auf Bildung erhalten.

Der Lebensraum muss bei der Bildungsarbeit dazu gedacht werden“

Welche Forderungen stellt die GEW für eine Chancengleichheit auf Bildung?

Wir sprechen immer davon, Ungleiches ungleich zu behandeln. Nehmen Sie als Beispiel die Stadt Essen, die sozial gesehen in Nord und Süd eingeteilt werden kann. Die Chance auf gute Bildung hängt von der Postleitzahl, der Adresse ab – und das gilt deutschlandweit. Dies könnte beispielsweise durch mehr Ganztagsschulsysteme aufgefangen werden, die es aber bisher noch nicht in dem nötigen Umfang gibt. Außerdem muss das Umfeld der Kinder über die Schule hinaus eingebunden werden, das bedeutet also Quartiersarbeit. Der Lebensraum muss bei der Bildungsarbeit dazu gedacht werden. Der ganze Sozialraum muss viel mehr in den Blick genommen werden, also Schule, Stadtviertel, aber auch Vereine. Was ganz konkret die Schulen betrifft, so müssen diese mehr Unterstützung erhalten im Bereich Personal, aber auch die Gebäude spielen oft eine nicht unerhebliche Rolle. Gerade in den weniger betuchten Stadtvierteln sind die Schulgebäude oft ein Skandal. Da kann man selber nachvollziehen, dass sich dort kein Kind, kein Jugendlicher aufhalten will. Mit Blick auf das Personal muss Schule breiter und multiprofessionell aufgestellt werden: Zusätzlich zu den Lehrkräften müssen Sozialarbeiter und -pädagogen sowie Erzieherinnen und Erzieher eingesetzt werden, außerdem Psychologen oder auch Heilerzieher. Zusammengefasst: Die Schulen müssen in die Lage versetzt werden, Unterschiede beim familiären Bildungshintergrund auszugleichen.

Dringender Handlungsbedarf, um die Gesellschaft zusammenzuhalten“

Gibt es hierfür Ansätze?

Im Moment bin ich da ehrlich gesagt leider weniger optimistisch. Zwar soll es ab 2024 auf Bundesebene das Startchancen-Programm geben, das gezielt Schüler und Schülerinnen aus sozial benachteiligten Familien fördern und ihnen bessere Chancen ermöglichen will. Das könnte ein erster Anfang sein, wenn die Gelder im Bildungsbereich nach sozialen Kriterien vergeben würden. In den vergangenen Jahrzehnten sah das eher schlecht aus. Von Geldern und Ausstattung abgesehen, haben besser ausgestattete Schulen natürlich auch weniger Personalsorgen: Lehrkräfte gehen lieber an die Schulen, die besser ausgestattet sind. Wir müssen dahin kommen, dass den Schulen bewusst ist, welche gesellschaftliche Aufgabe sie haben und dass sie diese auch wahrnehmen können. Es ist bisher noch zu wenig klar, dass es sich hier um die ganz großen gesellschaftlichen Fragen handelt. Es gibt ganz dringenden Handlungsbedarf, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Dafür müssen die Schulen ausgestattet werden. Und um den Kreis zu Ihrer ersten Frage zu schließen: Hier geht es durchaus auch um eine wirtschaftliche Frage, denn wir haben einen gravierenden Fachkräftemangel. Das heißt: Wir brauchen – auch wirtschaftlich gesehen – wirklich jede und jeden und müssen dafür sorgen, dass alle Menschen eine gute Ausbildung erhalten.


ARMUT LEICHT GEMACHT - Aktiv im Thema

ichbinarmutsbetroffen.start.page | Die basisdemokratische und linke Bewegung erwartet von der Politik, die Armutsfrage ernst zu nehmen.
dishwasher-magazin.de | Das „Magazin von und für Arbeiter*innenkinder“ gibt denen eine Stimme, die aufgrund ihres „tatsächlichen, vererbten“ oder „zugeschriebenen sozialen Status benachteiligt, diskriminiert und entwürdigt“ werden.
bodoev.org | Seit fast 30 Jahren klärt der Verein mit seinem in Dortmund und umliegenden Städten verteilten Straßenmagazin in über die Belange armer und obdachloser Menschen auf.

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Interview: Verena Düren

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