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Die Taliban sind in Bayern angekommen
Foto: Presse

Lang lebe Bavaristan

22. Oktober 2016

„Die kleinste Armee der Welt" im Kino Babylon Hagen – Foyer 10/16

Hamon und Marcus sind die kleinste Armee der Welt. Eine Zweimann-Partisanengruppe, die „Bavarian Taliban". Ihr Revier: Oberbayern. Ihre Losung: „Bergvölker aller Länder, vereinigt euch!" Und ihre Waffen, das dürfte klar sein, sind nicht die Plastik-Kalashnikovs, die sich mit sich herumtragen, sondern selbstverständlich ihr Humor.

2015 starteten Theatermacher Marcus und der aus Afghanistan stammende Politikwissenschaftler Hamon ihre Kunstaktion: Verkleidet als Mudschaheddin besuchten sie Stammtische und Schützenvereine, luden die Bergjugend zu Theater-Vorstellungen ein oder positionierten sich einfach in ihrer Verkleidung im öffentlichen Raum – das ist manchmal Provokation genug. Die deutschen Urvölker in den fernsten Provinzen mit einem der am besten ausschraffierten Feindbilder seit 9/11 zusammen treffen zu lassen. Der langjährige Afghanistan-Korrespondent und Regisseur der hochgelobten Doku „Generation Kunduz" begleitete sie dabei. Das ist witzig, klar, aber trägt das auch einen ganzen Film?

„Zu Gast bei Feinden“

 

Nein, das tut es nicht, aber Gerner begleitet nicht nur die Aktionen des schrägen Duos, sondern fühlt auch nach: Warum der ganze Karneval, und warum immer wieder? Die Antwort ahnt der Zuschauer langsam: Marcus, bekennender Pazifist, ehemaliger Aktivist der Friedensbewegung und selbst Bayer hadert mit seiner Heimat: mit alten Männern vom Dorf, die Porträts von Hitler an Touris verscherbeln, mit dem Mief des provinziellen Katholizismus und Soldatenkult. Hamon hingegen fühlt sich prinzipiell pudelwohl in seier Heimat: als Kind kam er nach Deutschland, während in Afghanistan die von der CIA hochgerüsteten Mudschaheddin gegen die Sowjets schossen. Nun schreibt er seine Doktorarbeit über die Darstellung von Muslimen in deutschen Medien. Mehr ankommen geht nicht. Trotzdem: als Deutscher wird er nicht anerkannt, seine Herkunft verdammt ihn zum Klischee: Afghane gleich Terrorist. FAZ-Überschriften wie „Zu Gast bei Feinden" tun da ihr Übriges. Und einen deutschen Pass hat er immer noch nicht. Also verwandelt er sich: In einen Talib, was auf Deutsch schlichtweg „Schüler" bedeutet und absolut ins Schwarze trifft – verkleidet als Terrorist „Omar Müller" lernt er seine Heimat aus den Augen des medial Verdammten kennen.

Eine Lehrstunde über Fremdheit

Die Kunstaktion an sich ist, trotz unvermeidlicher Redundanz, spannend. Gerners filmische Begleitung ist vergleichsweise konventionell, hat aber ihre Glanzmomente: Der Gag ist, dass Akteure und Regisseur gemeinsam es schaffen, dass uns die Bayern, dieses seltsame Bergvolk, nach einiger Zeit viel fremdartiger vorkommen als die beiden wandelnden Karikaturen Marcus und Hamon. Das liegt natürlich auch daran, dass wir am Ende ganz genau wissen, was die beiden jungen Männer zum bayerischen Satire-Dschihad bewegt hat – warum sich Menschen zum heiteren Umtrunk auf dem Bergdorf in Uniformen schmeißen und zu Blasmusik marschieren, bleibt weiter ein Rätsel. Und das ist, im Sinne des Films und dem Geist der Kunstaktion entsprechend, absolut richtig. Denn so wird die Dokumentation über die Kunstaktion selbst zu einer Lehrstunde über Fremdheit und Anders-Sein – was sie auch trotz der manchmal vor sich hinplätschernden Dramaturgie mehr als sehenswert macht.

Martin Gerner im Kino Babylon in Hagen, Foto: Dominik Lenze

Als Auslandskorresondent, der kurz vor seinem Besuch im Babylin Kino Hagen (am 20.10.) noch auf einem Filmfest in Mossul war, kann Martin Gerner die Fremdenangst, der sich viele Deutsche derzeit hingeben, nicht recht nachvollziehen: „Warum ist das Fremde überhaupt immer negativ konnotiert?", fragt er. Ihn habe das Fremde stets fasziniert und neugierig gemacht. Deshalb: „Ich denke, wir müssen aktuell noch viele Deutsche integrieren." Seinen Film, der komplett im Eigenverleih in die Kinos kommt, zeigt er am liebsten selbst, um im Anschluss mit dem Publikum diskutieren zu können. In Hagen nutzte er die Gelegenheit, um zu erfragen, wie die Stimmung vor Ort sei, wie es mit der Mammutaufgabe Integration voranschreite – eine „Generationenaufgabe", wie er findet. „Aber eine Aufgabe für mehr als ein paar Monate zu haben – das ist doch eigentlich was Schönes."

Die Kinotour von „Die kleinste Armee der Welt" setzt Gerner fort. Die nächsten Stationen im Ruhrgebiet sind: das Filmstudio Glückauf in Essen (1.11.), das Filmforum Duisburg (2.11.) und die Ruhr-Universität Bochum, wo der Studienkreis Film das Werk am 3. November zeigen wird.

Dominik Lenze

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