In den 60ern sang Bob Dylan über einen alten Hobo, über den niemand seine traurige Geschichte singen wird, Ralph McTell schnulzte kurz danach über die Streets of London und die Toten Hosen setzten einem Penner eine Krone aus Zeitungspapier auf. Wohnungs- und Obdachlose sind so sehr Thema der Musikkultur wie sie nicht Teil unserer „normalen“ Gesellschaft sind. Die Norm möchte sie nicht kennen, die obdachlosen und sozial schwachen Menschen. Selbstverschuldet, wahrscheinlich durch ihre Drogenabhängigkeit, so ist ihre Lage doch wohl am ehesten zu erklären, oder? Sie trinken vor und hinter Bahnhöfen, stören den schönen Schein der Einkaufsstädte, drängen Zeitungen auf. Bei Wahlkampagnen rutschen sie meist durch. Die Internationale kämpft nicht für ihr Menschenrecht, den Sozen sind sie nicht hart arbeitend genug (halten die sich überhaupt an die Regeln?) und allenfalls als Gegenpart zu Flüchtlingen, die ja „alles in den Arsch geschoben bekommen“, werden sie aktuell bei den Populisten vorgeführt, ohne sich dabei auch nur ein µ für sie zu interessieren. Kurz: Lieber aus den Augen, aus dem Sinn? Also auch weg von der Leinwand, aus dem Sinn?
Es ist doch verständlich, dass wir im Kino lieber schöne Geschichten sehen möchten als deprimierende Schicksale. Ebenso verständlich ist es aber auch, dass Kino wie die Musik nicht nur auf die Sonnenseiten des Lebens einen Fokus legt. Einige Geschichten aus dem sozialen Abseits sind gut erzählt, andere nur gut gemeint, manchmal sind sie traurig, manchmal skurril. In „Der Solist“ schickt Joe Wright Jamie Foxx als brillanten, jedoch auch schizophrenen Musiker auf die Straßen L.A.s, verwehrt ihm ein gefühlsduseliges Ende und rutscht so nicht ins Sozialkitschige ab – im Gegensatz zu Mel Brooks, der in seinem Klamauk „Das Leben stinkt“ sich selbst als hartherzigen Protagonisten der Läuterung unterzieht und hinterher alles gut und seicht werden lässt. Ganz anders dagegen stellt das Drama „Streets of New York“ mit Matt Dillon und Danny Glover das Leben, die Verzweiflung und die Hoffnungen der obdachlosen Menschen dar, ohne zu verklären, stattdessen mit nackter Realität. Das ärgerliche Drama „Das Streben nach Glück“ dagegen steht mit der Message „Du musst nur wirklich wollen“ im harten Kontrast zu dem jüngsten Werk von Ken Loach „Ich, Daniel Blake“, der den „Hauptmann von Köpenick“ in den britischen Sozialstaat katapultierte.
Neben genannten Spielfilmen sprengen vor allem Dokus wie „9 Leben“ vorschnell gefasste Meinungen. Die Doku „Obdachlos“, die im April im sweetSixteen in Dortmund zu sehen ist, geht einen ganz besonderen Weg: Der 21-jährige Bottroper Hüdaverdi Güngör mischte sich vier Tage und Nächte unter die Obdachlosen Kölns. Nicht wird über sie geredet: Sie reden. Zwar stellt Güngör ihnen das Medium, mit ihren Geschichten geben sie sich jedoch selbst ein Gesicht. Manchmal bedarf es eben der Leinwand, damit die Gesichter und Geschichten, die uns tagtäglich umgeben, nicht aus unseren Sinn geraten.
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