Angela Merkels enthusiastisches „Wir schaffen das“ weckte während der Flüchtlingskrise 2015 die Lebensgeister, denn es entsprang einer inneren Überzeugung. Kein Thema polarisierte ähnlich stark: Mit Befürwortern auf der einen und Gegnern auf der anderen Seite – und der Politik als scheinbarem Vermittler.
An Bahnhöfen wie München standen sie und jubelten Neuankömmlingen entgegen. Zahlreiche Ehrenamtliche engagierten sich in Erstaufnahmestellen, verteilten Kleidung und Kosmetik an Flüchtlinge. Andere gründeten Initiativen und organisierten Sprachkurse für eine schnelle Integration. Deutschland versöhnte sich mit seiner Geschichte und wurde zu einem Symbol für Willkommenskultur. Es schien, als habe man aus Nachkriegszeit und Wiedervereinigung gelernt und als wolle man denjenigen, die kommen, einen schnellen Start in ein neues Leben ermöglichen.
Die Zahlen haben sich inzwischen gedreht. Laut einer Umfrage des Kantar Emnid-Instituts aus Bielefeld 2017 wandelte sich das positive Klima mit zunehmender Zahl der ins Land kommenden Flüchtlinge. Während 2015 noch 51 Prozent der Deutschen dafür plädierten, mehr Flüchtlinge im Land aufzunehmen, glauben 2017 mehr als die Hälfte nicht mehr daran, das Deutschland weiteren Flüchtlingen Asyl gewähren kann.
Hat eine Zunahme der Flüchtlingszahlen dafür gesorgt, dass die Vorbehalte innerhalb eines Teils der Öffentlichkeit größer wurden? Was hat die Ängste geschürt? Vielleicht die Tatsache, dass seitens der Deutschen Regierung kein klares Konzept dahinter stand, das Orientierung bot. Nicht einmal innerhalb der CDU/CSU war man sich einig, welche Linie verfolgt werden müsse. Während Horst Seehofer (CSU) eine Obergrenze propagierte, stellte sich Angela Merkel (CDU) entschieden dagegen. Bot diese Unsicherheit den Nährboden für die Skepsis innerhalb der Bevölkerung?
Nicht nur in Form von Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte entlud sich zunehmend die Gewalt der Gegner, selbst das Sicherheitspersonal darin stellte mancherorts eine Bedrohung für die schutzsuchenden Flüchtlinge dar. Auch in den sozialen Medien veränderte sich das Klima in rasanter Weise. Bereits im Jahr 2014 stellte die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) in ihrem Jahresbericht eine starke Zunahme fremdenfeindlicher politischer Posts im Netz fest.Soziale Medien tragen dabei in besonderem Maße zu einer Enthemmung bei, da sich darin Kritik jeder Façon nahezu ungefiltert kanalisieren kann. Die zunehmende Hetze im Netz veranlasste Justizminister Heiko Maas, das umstrittene Netzwerkdurchsetzungs-Gesetz (NetzDG) auf den Weg zu bringen.
Doch wie lassen sich beide Lager versöhnen? Es gibt unterschiedliche Theorien darüber, wer sich von Flüchtlingen bedroht fühlt. Menschen, die sich als gesellschaftlich abgehängt erleben, können dem Glauben erliegen, Flüchtlinge wären besser gestellt als sie. Doch auch gut Situierte können sich bedroht fühlen. Aus der Angst heraus, potenziell ihren eigenen Status zu verlieren wird bekämpft, was fremd ist. Was allen wohl gemein ist, sie erleben die Flüchtlinge als eine symbolische Bedrohung, eine große Unsicherheit, für die sie nach Erklärungen suchen. Sozialpsychologen raten deshalb dazu, innerhalb eines öffentlichen Diskurses diesen Ängsten Raum zu geben und sie ernst zu nehmen, da sie andernfalls in Wut und Aggression umschlagen können.
Gleichwohl sollte auch platten, haltlosen Vorwürfen begegnet werden, mit Fakten. Denn es hilft indirekt, Vorurteile abzubauen. Wie leben Flüchtlinge wirklich? Was sind die realen Kosten für den Staat? Ab wann dürfen sie bei uns arbeiten? In den ersten drei Monaten dürfen Asylsuchende zum Beispiel keinen Job annehmen. Und auch danach nur eingeschränkt, da EU-Bürger bevorzugt werden. Realistisch betrachtet: Absagen bei der Jobsuche sind frustrierend und es braucht schon eine große Portion Eigenmotivation, um als Flüchtling auf dem deutschen Arbeitsmarkt wirklich Fuß zu fassen.
Doch ein Job allein ist kein Garant für Integration. Dafür braucht es sinnvolle Konzepte, die Partizipation und Identifikation schulen. Sich kennen lernen und für den anderen interessieren, kann Vorbehalte zwischen Flüchtlingen und Aufnahmegesellschaft abbauen. Ideen gibt es genug: Von Refugees Kitchen über Lieder-Tausch in Gotteshäusern bis hin zu Sportkursen. Wichtig ist, in Kontakt zu kommen und die Menschen zu erleben. Damit aus Ablehnung langsam Akzeptanz erwachsen kann.
Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema
Aktiv im Thema
3alog.net | Der Verein sucht das interreligiöse Gespräch und bietet in selbst produzierten Videos bereits viel differenzierte Expertise an.
theeuropean.de | Nicht nur meckern und hetzen! Das „Debatten-Magazin“ European pflegt die gesittete Debatte und lässt unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen.
www.bpb.de | Dossier der bpb zum Versöhnungs-Konzept zwischen verfeindeten Völkern und Volksgruppen.
Konflikte gehören zum Leben: Was nagt an Ihnen?
Vergeben und vergessen? Zukunft jetzt!
Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Wir könnten beschließen, in einer Versöhnungsgesellschaft leben zu wollen“
Konflikt- und Gewaltforscher Andreas Zick über Streitkultur und Gesellschaftsdialog – Thema 01/18 Versöhnung
Mit Frühstückseiern reden?
Versöhnung beginnt am Küchentisch – Thema 01/18 Versöhnung
Die Messenger-Falle
Teil 1: Leitartikel – Zwischen asynchronem Chat und sozialem Druck
Kult der Lüge
Teil 2: Leitartikel – In den sozialen Netzwerken wird der Wahrheitsbegriff der Aufklärung auf den Kopf gestellt
Champagner vom Lieferdienst
Teil 3: Leitartikel – Vom Unsinn der Debatte über die junge Generation
Fortschritt durch Irrtum
Die Menschheit lässt sich nicht aufhalten. Ihre Wege kann sie aber ändern – Teil 1: Leitartikel
Das Gute ist real …
… mächtige Interessengruppen jedoch auch. Und die bedienen sich der Politik – Teil 2: Leitartikel
Wir sind nicht überfordert
Die Gesellschaft will mehr Klima- und Umweltschutz – Teil 3: Leitartikel
Wo europäische Werte enden
Menschen aus dem globalen Süden dürfen nicht einfach so in die EU – Teil 1: Leitartikel
Gefährliche Kanzel-Culture
Für mehr Streit und weniger Feindbilder – Teil 2: Leitartikel
Auf dem rechten Auge blind
Verfolgungseifer von Behörden, Politik und Presse gegen Linke – Teil 3: Leitartikel
Kein Recht auf Wohnen
Wie ein Grundbedürfnis unbezahlbar wird – Teil 1: Leitartikel
Finanzkrise nonstop
Wieder retten öffentliche Gelder Banken aus der selbstverschuldeten Krise – Teil 2: Leitartikel
Spätrömische Dekadenz
Falsche Versprechen zu Lohn und Leistung – Teil 3: Leitartikel
Kultur ist für alle da
Von gesellschaftlicher Vielfalt auf und vor den Bühnen – Teil 1: Leitartikel
Gentrifizierung auf Griechisch
Investoreninteressen und staatliche Repression im Athener Stadtteil Exarchia – Teil 2: Leitartikel
Hinter vorgehaltener Hand
Freiheit in der smarten Stadt – Teil 3: Leitartikel
Vorwärts nimmer, rückwärts immer
Verkehrswende in die Vergangenheit mit der FDP – Teil 1: Leitartikel
Mercedes oder per pedes?
Lob des Zufußgehens – Teil 2: Leitartikel
Bike Bike Baby
Freie Fahrt fürs Fahrrad – Teil 3: Leitartikel
„Totalverzweckung“ des Menschen
Bildung verkommt zur ökonomischen Zurichtung – Teil 1: Leitartikel
Wunsch nach Anerkennung
Über Erziehung und Kinderglück am Beispiel musikalischer Stars – Teil 2: Leitartikel
Steiles Gefälle
Überlegungen zum Altersglück – Teil 3: Leitartikel
Drei Millionen Liter
Gedanken zur Periodenarmut – Teil 1: Leitartikel
Die normalste Blutung der Welt
Vom Ende des Tabus der Menstruation – Teil 2: Leitartikel