„Warum gibt es keine Antworten, die nicht tendenziös sind“, fragt Sarah Glidden in ihrem autobiografischen Bericht „Israel verstehen – In 60 Tagen oder weniger“ über eine Reise nach Israel. Die 10-tägige Reise wird gestiftet, um Juden aus aller Welt das Leben in Israel näher zu bringen. Glidden gelingt das, was sie suchte: Ihr Reisebericht ist geprägt von ständiger Selbstreflexion, und die Autorin ist klug genug zu wissen, dass es immer verschiedene Wahrheiten gibt. Das Ganze ist leichtfüßig in farbigen Aquarellzeichnungen erzählt, so dass Verbissenheit und Dogmatismus auf keiner Ebene eine Chance haben (Panini).
Zusammen mit Zeichner Ryan Kelly widmet sich Brian Wood mit „Local“ einer Ausreißerin: Megan haut immer wieder ab, mit 17 dann endgültig. Sie zieht zwölf Jahre durch die USA, ist immer an anderen Orten – Großstädten, Kleinstädten, auf dem Land. Sie lernt die unterschiedlichsten Menschen aus den unterschiedlichsten Schichten kennen. Mal ist sie nur Nebenfigur, meist aber steht sie im Zentrum dieses fast 400 Seiten starken Kaleidoskops eines Landes, das zugleich eine Coming-of-Age-Geschichte einer jungen Frau ist – beeindruckend (Modern Tales). Gleich ein halbes Leben spiegelt Manuele Fior mit „Fünftausend Kilometer in der Sekunde“. Eine kurze Jugendliebe ist der Auftakt, von dem aus Fior die getrennten Lebenswege der beiden Protagonisten verfolgt. Damit fängt er meisterlich die Ernüchterung vom Lebenstraum zum Alltag ein und entlässt uns mit einem Hauch Melancholie (avant verlag). Eine Kinderfreundschaft ist der Ausgangspunkt für die Gefühlsirrungen in „Hair Shirt“. Büßerhemd bedeutet das, und John büßt! Mit surrealen Alpträumen, die die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Was das alles mit seiner Freundin Naomi zu tun hat, die nach Jahren wieder in die trostlose Heimatstadt zurückgekehrt ist, muss John langsam und schmerzlich erfahren. Der Kanadier Patrick McEown zeichnet den adoleszenten Alptraum in zittrigem Fluss (avant verlag).
Altmeister Enki Bilal hat sich mit „Julia & Roem“ wieder erfolgreich dem klassischen Erzählen zugewandt. So klassisch, dass er sich mit seiner Science Fiction Liebesgeschichte sogar elegant an Shakespeare anlehnt. Die Figuren in dem apokalyptischen Szenario sehen zwar nach wie vor wie Waves anno 1983 aus, aber seine geheimnisvollen Kreisezeichnungen und der untergründige Humor machen den Band zu einem Ereignis (Ehapa). Mit „Gemma Bovery“ widmet sich Posy Simmonds nach „Tamara Drewe“ (erfolgreich verfilmt als „Immer Drama um Tamara“) erneut dem Liebesleid in der britischen Mittelschicht. Anhand von Tagebuchaufzeichnungen wird das Leben der verstorbenen Gemma erzählt, die sich mit ihrem Mann in der Normandie niedergelassen hat, aber todunglücklich ist. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben kurbelt die Ereignisse an. Wie Bilal lehnt sich auch Simmonds wieder an einen Klassiker der Literaturgeschichte an und erzählt in ihrer eigentümlichen Kombination aus Comic und Textpassagen (Reprodukt). Das Comiczeichnerinnen Kollektiv „Spring“ setzt sich in der achten Ausgabe der gleichnamigen Anthologie mit „Familiensilber“ auseinander. Nicht nur Themen und Stil, auch die Technik der Beiträge ist sehr unterschiedlich. Die Palette reicht vom klassischen Comic (Claire Lenkova, Uli Lust, Barbara Yelin) über abstraktere Grafikarbeiten, Fotoübermalungen, Pappcollagen bis hin zu bemaltem Geschirr. Ohne Rücksicht auf Grenzen wird hier der Freiheit des Erzählens gefrönt, und dass mit berührenden, persönlichen Themen.
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