So einfach lässt sich das Souterrain der Szenekneipe Rekorder in einen Partykeller der Literatur verwandeln: Man nehme erstens an, dass das Reflektieren auf der Metaebene nicht nur akademisches LiteraturwissenschaftlerInnen-Zeugs ist. Zweitens: Man packe es in eine Performance, die seriös genug ist, um noch als Literatur durchzugehen. Sam Greb ist die sprachgewaltige Synthese dessen. Das Konzept auf der Lesebühne ist bekannt: Ein stummer Autor und sein treuer Gefährte. Der weiß zum späteren Abend: „Eigentlich sind wir ja schon am Ende der Veranstaltung.“ Damit auch am Ende der Winterfieber-Reise, mit der Sam Greb durchs Ruhrgebiet tourte. Im kühlen Keller des Rekorder als letzte Station verlangt man im Publikum aber eine Zugabe aus der Fieberwelt des Künstler-Duos, und die folgt auch: „Eine Geschichte, die gibt es nur hier und nicht als Hörspiel“, wird versichert. Zu Recht. Denn der Text gerät auf der Bühne auch zur Performance, die lässig mit besagter Metaebene spielt.
Vom Vorleser begraben: Performance-Witz über Derridas Präsenz
In der Zugaben-Geschichte geht es unter anderem um Andy Rom und seinen „Lesesklaven“, den titelgebenden „Vorleser“, dessen Präsenz alles – vor allem den Autor selbst – prägt; dabei trug er nicht mehr als ein Unterhemd und eine schwarze, zerrissene Hose, so Sam Grebs Vorleser auf der Bühne, dessen Kleidung währenddessen abcheckende Aha-Blicke aus dem Publikum auf sich zieht. Man ist geneigt, den Vorleser, sowohl in der Geschichte als auch auf der Lesebühne, als literarischen Performance-Witz über Derridas „Präsenz“ aufzufassen. Sam Grebs Vorleser ist das notwendige Moment der Präsenz, die Stimme. Das wird munter performt und auch am Ende der Geschichte poetisch zum Ausdruck gebracht: „Vielleicht werdet Ihr eines Tages von mir hören - begraben von der Stimme meines Vorlesers.“
Zwischen Kafka und Lynch: Postmodernes Endzeit-Schaudern
Absurd und surreal ist dagegen „Die bemalten Beine“, eine weitere Geschichte des Abends. Für keine wirkliche Präsenz steht darin auch eine unbekannte Frau, die sich dem Ich-Erzähler als obskures Objekt der Begierde entzieht („so schwer zu greifen“) bis hin zu einem Berg von zitterndem Fleisch eines gewaltigen Frauenkörpers, der in diesem Traumszenario (und da kann man wieder seinen Derrida auspacken: der Aufschub der Präsenz, die Spur einer nicht stattgefundenen Lust) schließlich zerfällt und in einem Batteriesäure-Bad übergeht. Das kann man als derben Nonsens abtun oder als Absurdität, die einer patriarchalischen und sexistischen Gesellschaft in bester surrealistischer Tradition die Leviten liest.
Lange Flure, Räume, die bloß in weitere Räume führen oder ein Haus nur mit Treppen. Man muss zuweilen an Kafka denken, bei den beschriebenen Szenerien an Filme von David Lynch oder Terry Gilliam: „einbeinige Kutscher“, „Drahtvögel“ oder ein Meer von Batteriesäure – die literarischen Welten Sam Grebs sind auch ein munterer Abgesang, ein postmodernes Endzeit-Schaudern über die Brüchigkeit der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft, die alle Natur durchdringt. Doch die ragt auch zurück in die Moderne, wie zum Beispiel der beschriebene See am Meeresufer in der Geschichte „Zirkuskinder“ – eine „Stille als Abwesenheit von allem.“
Präsent bleiben dagegen die coole Performance von Sam Greb und poetische, sprachgewaltige Texte, wie man sie in der hiesigen Literaturszene kaum zu hören bekommt.
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