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Ralf Rothmann
Foto: Heike Steinweg

Stumme Väter

26. November 2015

Wie das Schweigen Deutschland vereist hat – Textwelten 12/15

Schweigsam sei der Vater gewesen, so erinnert sich der Sohn. Zwar haben ihn die anderen in der Siedlung im Ruhrpott geachtet, aber selbst bei den Familienfesten blieb eine Aura der Unnahbarkeit um ihn herum bestehen. Seine Reserviertheit legt sich wie ein Schatten auf die Kindheit des Sohnes. Am Ende von Ralf Rothmanns neuem Roman „Im Frühling sterben“ versteht man, warum Walter Urban aus seinem inneren Gefängnis nicht mehr entweichen konnte. In jungen Jahren arbeitete er als Melker in Norddeutschland, da gab es ein selbstbewusstes Mädchen mit dem er später, nach dem Krieg, in eine Ehe findet, und er hat mit „Fiete“ einen besten Freund. Beide werden im Februar 1945 von den Nazis eingezogen. Während Walter als Fahrer bei der SS eingesetzt wird, muss der rebellische Fiete noch an die Front.

Fiete desertiert und wird geschnappt. Walter setzt sich für ihn bei seinem Vorgesetzten ein, mit dem Ergebnis, dass ihm der Karabiner in die Hand gedrückt wird, um den Freund zu töten. Ralf Rothmann weiß, wie die Nazis dachten, er erzählt mit einem solchen Gespür für Menschen und die Atmosphäre besonderer Situationen, dass man glaubt, man befände sich im Kino. Er schildert diese andere Welt von innen heraus, mit ihrer gnadenlosen Gewalt und ihren Vorstellungen von einem Deutschland, dessen Realität nicht allein über Fakten rekonstruiert werden kann, sondern ein Verständnis für die Mentalität der Menschen benötigt. Trotz der bitteren Geschichte enthält der Roman sinnliche, lebenssatte Bilder, die zum Schönsten gehören, was die deutsche Gegenwartsliteratur zu bieten hat.

Dass dieses Deutschland der Nachkriegszeit so stumm geblieben ist, hier bekommt man eine Vorstellung von den Gründen. Rothmann besitzt ein Ohr für die Heranwachsenden. Aus der Welt der Jugendlichen berichten auch die Zeitzeugen in Reiner Engelmanns Band „Wir haben das KZ überlebt“. Engelmann schreibt mit einfühlsamer Zurückhaltung die Berichte von zehn Männern und Frauen auf, die aus ihrer Jugend im Lager erzählen. Unglaubliche Momente, wenn man weiß, dass man zum letzten Mal die Mutter umarmt. Von Gewalt wird gesprochen und von der Solidarität unter den Häftlingen. Erlebnisse, von denen man in Deutschland nach dem Krieg nichts hören wollte. Entschädigungszahlungen wurden mitunter von ehemaligen Nazis im neuen Staat abgelehnt.

Aus der Perspektive der Kinder berichtet auch Barbara Warnings sorgfältig recherchiertes Buch „Kindheit in Trümmern“. Atemberaubend, welcher Hass den deutschen Flüchtlingen im eigenen Land nach 1945 entgegenschlug. Verstörend die Begegnung mit den Vätern, die aus der Gefangenschaft kamen und den Kindern fremd blieben. Männer, die mit ihren autoritären Vorstellungen keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern aufzubauen vermochten. Das lange unverständlich gebliebene Schweigen der Väter: In dem Maße, in dem es aus dem Schatten geholt wird, verändert es den Blick auf Deutschland.

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben | Suhrkamp | 234 S. | 19,95 €

Reiner Engelmann: Wir haben das KZ überlebt | Cbj | 256 S. | 16,99 €

Barbara Warning: Kindheit in Trümmern | Ravensburger | 192 S. | 19,99 €

Thomas Linden

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