Die erste Erwähnung Sterkrades ist ein Fluch, weiß Ingo Dämgen zu berichten: Als „scheußlicher Ort“ wird die Gemeinde in einer Reisebeschreibung kurz nach dem Westfälischen Frieden am Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648) beschrieben, da das dortige Kloster den Reisenden den Zutritt verweigerte. Heute sind es eher Geschäftsschließungen in der Innenstadt, die Sterkrade nach einem nur teilweise gelungenen Strukturwandel vom Industriestandort (bereits 1782 wurde die Eisenhütte „Gute Hoffnung“ gegründet) in Krisenzeiten zu schaffen machen. Aber: „Wenn alles nichts mehr hilft, dann gibt es immer noch das Angebot eines Hypnosetherapeuten“, rät der 1972 geborene Österreicher Autor Florian Neuner in seiner 2010 im Wiener Klever-Verlag erschienenen 480-seitigen „Revierlektüre“ mit dem Titel „Ruhrtext“ und geißelt dort die „Alte Mitte“ der Stadt, die er eher in Oberhausen erwartet hätte…
Immerhin erinnert noch die 1956 am Zilianplatz unweit des Sterkrader Bahnhofs errichtete Skulptur „Der Eisengießer“ von Wilhelm Hanebal (1905-1982) an die industriellen Wurzeln der Stadt. Unter dem Synonym Swertrup wird Sterkrade in Karl Grünbergs Roman „Brennende Ruhr“ als einer der Schlüsselorte für die Märzrevolution von 1920 beschrieben, als der vorausgehende faschistische Kapp-Putsch zunächst mit einem Generalstreik gekontert wird und Kommunisten, Linkssozialisten und Anarchisten für einige Wochen politisch das Ruder in der Ruhr-Region übernehmen. Dieses in der bürgerlichen Geschichtsschreibung sowie im Geschichtsunterricht nicht selten unterschlagene Kapitel war für Sterkrade prägender als für andere Teile des Ruhrgebiets – wurde die Gemeinde doch bald zur 'Frontstadt' im Kampf gegen die ausgerechnet vom sozialdemokratischen Minister Noske auf den Plan gerufene Reichswehr. Atmosphärisch wird das Industriegebiet bei Grünberg als „trostlose Gegend“ beschrieben und menschliche Gefühle als „verrußt“ bezeichnet, während das Fernweh des Protagonisten im Fokus steht: „Wehmütig blickte er den Zügen nach.“
Auch der 1952 in Oberhausen geborene Autor und Journalist Peter Kersken wirft in seinen Romanen mit Titeln wie „Tod an der Ruhr“ (2008), „Im Schatten der Zeche“ (2010) oder „Zechensterben“ (2013) ein eher düsteres Licht auf die krankmachende Arbeitswelt der ehemals von Stahl und Kohle geprägten Region, wo blutspuckende Arbeiter ein unwürdiges Dasein fristen. Florian Neuner hingegen fühlt sich vom postindustriellen Sterkrade mit seiner etwas verträumten Fußgängerzone nach seiner anfänglichen Skepsis zunehmend angezogen: „Ich werde auch diesmal nicht zur Neuen Mitte fahren“; statt in die Oberhausener City geht die Reise einmal mehr in die Sterkrader Innenstadt – wenngleich auch hier eine wirkliche „Mitte“ als urbanes Zentrum zu fehlen scheint. Die städtebauliche Entwicklung läuft aus Neuners Sicht lediglich auf den Bau eines kommerziellen „Centerpoints“ hinaus: „Der ganze Raum ist bereits vom Feind besetzt“, der diesen „für seine Zwecke gezähmt“ habe, hätten bereits die situationistischen Künstler der 50er und 60er Jahre gewusst...
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