„Was ist das Böse?“, fragt einer der Täter. Auch wenn man es nicht immer benennen kann, so besitzt es doch Realität. Vier junge Männer misshandeln und vergewaltigen über Stunden eine junge Frau im ausgebauten Keller einer Villa, während in den oberen Etagen eine Party gefeiert wird. Da sich die Tat in einem noblen Vorort von Helsinki ereignet, schlagen die Wogen des Skandals zunächst hoch, werden später aber wieder geglättet. Mit Macht und Geld lässt sich halt Einfluss geltend machen.
Monika Fagerholm gibt in ihrem Roman keine Antwort auf die Frage nach dem Bösen, aber sie legt das Terrain trocken, auf dem es entstehen kann. Denn während sich an der gesellschaftlichen Oberfläche die Fassaden wieder schließen, brechen darunter Biographien zusammen, die auch vor den Ereignissen schon prekär waren. Dabei interessiert sie sich besonders für das weibliche Umfeld der Täter.
Fagerholm landete 1994 einen Sensationserfolg mit ihrem Roman „Wunderbare Frauen am Wasser“. Die literarische Krönung erhielt die 61-Jährige 2020 mit dem Großen Preis des Nordischen Rates für „Wer hat Bambi getötet?“. Das Sujet ist nicht außergewöhnlich, eher die Strategie, mit der sie erzählt. Denn Gusten, einer der Täter, wird von seinem Gewissen geplagt. Durch ihn kann der Fall – selbst gegen den Willen des Opfers – aufgeklärt werden. Fagerholm analysiert die Faszien des gesellschaftlichen Körpers. Wie steigen die Frauen vom Lande oder aus dem Mädchenheim ins wohlhabende Bildungsbürgertum auf und welche Spuren hinterlässt dieser Lebensweg in ihnen? Wie wird über die Vergangenheit gedacht und gesprochen?
Das ist das zentrale Thema dieses Romans, für den Fagerholm einen eigenen Stil entwickelt hat. Hier kommt Antje Ravic Strubel ins Spiel, die aus dem Schwedischen in ein Deutsch übersetzte, das perfekt einem locker hingeworfenen Gestus folgt. Dieses Nachfragen, Überlegen und Wiederholen orientiert sich an den Rhythmen unseres Denkens mit seinen spontanen Sprüngen und Assoziationen, wenn die Wiederholungen mitunter auch verzichtbar sind. Der lässige Gesprächston erweist sich als ideales Instrument, um die Bilder zu demontieren, die sich eine Gesellschaft zurechtzimmert, um das Unaussprechliche zu vertuschen.
Monika Fagerholm: Wer hat Bambi getötet? | Residenz Verlag | 256 S. | 25 €
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