Lilian Thuram muss sich nicht lange im Saal umschauen, um eine Antwort auf seine Eröffnungsfrage zu finden. Wer aus dem Publikum weiß sei, will er wissen. Und bittet prompt eine Zuhörerin aus der ersten Reihe ans Mikro, um kritisch nachzuhaken: nach ihrer Selbstwahrnehmung des Weißseins, ihr Wissen darum. Thuram lässt sie nicht lange zappeln, es geht ihm ausschließlich um eine kurze Demonstration, was es bedeutet, die „weiße Maske“ abzulegen.
Der Begriff stammt von Frantz Fanon und bezeichnet jene Normalität und Unsichtbarkeit, die durch die politische Kategorie des Weißseins garantiert wird. Fanon, der Theoretiker des Kolonialismus, ist einer von vielen Referenznamen in Thurams Streitschrift – neben Autor:innen wie Aimé Césaire, James Baldwin, Maya Angelou, Toni Morrison oder Achille Mbembe. Worum es in seinem Buch geht, das er auf Einladung des ballspiel.vereint! und des Fan-Projekts Dortmund e.V. vorstellte, das signalisiert bereits der Titel: „Das weiße Denken“.
Dieses habe sich über Jahrhunderte des Kolonialismus und des staatlichen Rassismus tief in das hegemoniale, kulturelle Gedächtnis eingebrannt, ohne dass es reflektiert wird: als Perspektive, die erst Menschen als schwarz, farbig oder als „People of Color“ markiert. „Schwarz zu sein bedeutet, nicht weiß zu sein. Weiß zu sein wird hingegen nicht in Frage gestellt“, schreibt Thuram in seinem Buch.
Sein Text greift zwar unzählige akademische Begriffe und ideologiekritische Theorien auf. Aber der Schriftsteller und einstige Fußballstar versteht es an diesem Abend, seine Argumentation mit einer lebendigen Didaktik zu vermitteln. Dazu gehört eine Anekdote, der zufolge Thuram eines Tages einen Jugendfreund anrief, um ihn nach seiner Hautfarbe zu fragen: „Wenn ich schwarz bin, was bist du dann?“ Seine Antwort: „ich bin normal“.
Dem Weltmeister von 1998 geht es nicht darum, Menschen aus dem Publikum oder seinen erwähnten Freund bloßzustellen. Thuram zielt vielmehr auf einen Perspektivwechsel, den er auch in der Lesung visuell demonstriert. So zeigt er den zahlreichen Gästen im Veranstaltungssaal des Stern im Norden eine geographische Darstellung der Erde, auch bekannt als Peters-Projektion. Darin erscheint die Welt auf den Kopf gestellt – jedoch nur aus einer nicht hinterfragten, eurozentristischen Sicht: „Interessanterweise sagen mir die Leute, dass ich die die Karte richtig herumhalten soll“, so Thuram. „Es geht also um einen Perspektivwechsel.“
Denn das weiße Denken habe sich durch eine Jahrhunderte währende Macht- und Gewaltgeschichte konstituiert. Entsprechend säßen diese Denkstrukturen tief in der Gesellschaft, als Gewohnheit, wie Thuram erläutert: „Wir erziehen unsere Kinder nicht, um frei zu leben. Wir erziehen sie einfach so, wie wir es seit Jahren kennen.“ War der Rassismus zunächst „eine politische Ideologie, um Gewalt zu rechtfertigen“, wie Thuram erklärt, so perpetuiere er noch gegenwärtig als Politikum, das um die eigene Leerstelle kreist: das Verdrängen, das Nichteingeständnis des eigenen Weißseins, bedingt durch eine sozialgesellschaftliche Konstruktion. „Jeder von uns verteidigt die Kategorisierung und Hierarchisierung“, sagt Thuram über diese internalisierten Muster. Sein Buch ist ein Denkanstoß, ein Appell, diese weißen Masken abzulegen.
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