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Sebastian 23
Foto: Christoph Neumann

„Kultur geht nie verloren, sie verändert sich nur“

08. September 2011

Sebastian 23 über Poetry Slam, Rebellentum, Literatur und kulturelle Veränderungen - Literatur in NRW 09/11

Neues Buch, neue Tour, neue Meisterschaften: Im Herbst hat Poetry Slammer Sebastian 23 alle Hände voll zu tun. 1979 als Sebastian Rabsahl in Duisburg geboren, war das sprachliche Multitalent 2008 Deutscher Meister und Vize-Weltmeister im Poetry Slam. Durch Auftritte auf Bühnen im ganzen Land und im Fernsehen bei Nightwash oder dem Quatsch Comedy Club zählt er seit Jahren zu den bekanntesten Poetry Slammern Deutschlands. Zudem ist er Moderator der Poetry Slams in Bochum, Herne und Freiburg und Mitglied der monatlichen Lesebühne LMBN im Dortmunder domicil. trailer sprach mit dem poetischen Allround-Talent.

trailer: Ein Rückblick: Vor wenigen Monaten warst Du mit der Lesebühne LMBN im Dortmunder Stadion. Wie kam es dazu?
Sebastian 23:
Der BVB hat bei uns angefragt und wir haben uns sehr gefreut über diese einmalige Chance. Weil es sehr gut lief, bleibt es aber vielleicht nicht bei dem einen Mal…

Wie erklärst Du Dir den Erfolg einer Lesebühne in Zeiten von abnehmender medialer Substanz?
Es kommt viel Quark im Fernsehen und man findet noch mehr Mist im Internet. Trotzdem denke ich, dass die Lesebühne schon ein Gegenentwurf zu lieblos und ideenlos gemachten Fernsehsendungen ist und auch darum einen großen Zuspruch erfährt. Zugleich spricht sie aber auch die multimedialen Rezeptionsgewohnheiten einer jungen Generation an und schwimmt in diesem Strom mit.

Auf Slams ist in der Regel ein Publikum zwischen 16 und 36 Jahren aus vorwiegend szenenahen Personen zu finden. Poetry Slams laufen im Fernsehen spät abends im WDR oder auf 3sat, die deutschsprachigen Meisterschaften 2010 wurden im Internet auf arte.tv übertragen. Spricht das nicht für ein größtenteils erlesenes, elitäres Publikum aus literaturbegeisterten, jungen Leuten?
Nein. Das ganz bestimmt nicht. Poetry Slam ist der Versuch, elitäre Kreise zu sprengen und Literatur zugänglicher für alle zu machen. Auf Slams sieht man, dass das funktioniert. Es handelt sich ja auch nicht um ein Pop-Konzert, sondern um eine Literatur-Veranstaltung. Ich kenne keinen Künstler, der den Anspruch hat, jedem zu gefallen. Jedoch gilt für den Poetry Slam ein dezidiert anti-elitärer Grundsatz: Jeder darf auftreten, die Bühne ist offen. Alles ist Kunst.

Also sind Poetry Slams auch Teil des klassischen Rebellentums der jungen Generation?
Es wird bestimmt so betrachtet. Aber es steckt viel mehr dahinter. Denn im Windschatten des Poetry Slam hält das gesprochene Wort als Kunstobjekt Einzug. Die Künstler sind weder bloß Autoren, noch Rezitatoren, noch Schauspieler. Sie sind SpokenWord-Künstler und erschließen damit eine Art Marktlücke – hier liegt eine tiefgehende Daseinsberechtigung, die über Modeerscheinung und Rebellentum hinausweist. Es wird vermutlich noch eine Weile dauern, bis man diesen Kern in der Mitte der bunten, explodierenden Frucht „Poetry Slam“ sieht.

Kann sich die Poetry-Szene langfristig gesehen vom Kabarett- und Comedy-Gewerbe abgrenzen?
Selbstverständlich, sogar sehr einfach – auch wenn es einige Grenzgänger gibt. Im Poetry Slam spielen auch ernste Texte und vor allem die literarische Qualität der Texte eine Rolle. Da liegt (grob gesagt) die Grenze.

Stichwort „literarische Qualität“: Im September erscheint dein neues Buch „Schwerkraft und Leichtsinn - Texte für Oben und Unten“. Was erwartet den Leser?
Vor allem ist das Buch eine Mischung aus humoristischen und ernsten Texten in allen Facetten. Geschichten, Gedichte, Dialoge, Monologe und dadaistisches Gelöte gehen Hand in Hand. Am Ende ergibt sich eine Perspektive auf die Welt, die ernst ist, aber sich nicht zu ernst nimmt.

Sind die unkomplizierten Bücher von Poetry Slammern eine Art Einstiegsdroge für Nichtleser?
Ja. Und zeitgleich sind sie eine Ausstiegsdroge aus Elfenbeintürmen.

Hamburger Grundschulen schaffen die Schreibschrift ab. Journalist Thomas Linden argumentiert, es sei nur ein Katzensprung vom Schreiben von Druckschrift zum Umstieg auf das Schreiben am PC. Geht damit Kultur verloren?
Kultur geht niemals verloren, Kultur verändert sich nur. Ich bin weiter von einer kulturkonservativen Position entfernt, als ein Fisch vom Schnee.

Schadet zu viel Technik nicht der Kreativität oder ist das Bild des Literaten, der einen spezielleren Zugang zu Zettel und Stift hat, veraltet?
Überhaupt nicht. Künstler arbeiten mit Medien und Technik. Ich habe meist ein Notizbuch bei. Wenn nicht, dann sammle ich meine Ideen in meinem Smartphone.

Mit deinem neuen Soloprogramm „Dem Schicksal ein Schnittchen schmieren“ tourst du durch ganz Deutschland. Was bekommt das Publikum geboten?
Eine wilde Mischung aus Gedichten, Geschichten, Liedern und Impro. Das ist meist lustig, immer ganz nah am Publikum und manchmal ganz ernst…

Im Herbst mal wieder einen Titel bei den deutschsprachigen Meisterschaften abräumen?
Nein, ich mache mit, weil ich dazugehöre.

Sind die Meisterschaften mehr ein großes Klassentreffen der Slammer als der vordergründige Wettbewerb?
Das ist ganz definitiv so. Natürlich ist der Wettbewerb der Anlass und wir haben Spaß daran, uns spielerisch zu messen. Aber gewichtiger ist es, dass sich die Szene versammelt. Ich würde das nicht „Klassentreffen“ nennen, sondern eher Konferenz oder Convention. Auch wenn es lockerer zugeht, als bei den meisten anderen Konferenzen.

Wann ist es Zeit, die Bühnen zu verlassen und als ernstzunehmender Literat gepflegte Lektüre zu erschaffen?
Wer mich und andere Bühnenliteraten jetzt nicht ernst nimmt, hat ein Brett vorm Kopf und übersieht eine globale Bewegung von Künstlern, die das Gesprochene Wort als Medium in den Mittelpunkt stellt.


Sebastian 23: „Schwerkraft und Leichtsinn - Texte für Oben und Unten“
WortArt Verlag, 13,95€

Solo-Programm: „Dem Schicksal ein Schnittchen schmieren“
NRW-Termine: 5.10., Kommödchen, Düsseldorf | 17.10., Atelier-Theater, Köln | 29.10., Grend, Essen | 11.11., CubaNova, Münster | 26.11., Kastell, Sonsbeck | 11.12., Paderborn

www.sebastian23.com | trailer-Video-Kolumne | weitere Literatur-Themen

Interview: Ingmar Burmann

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