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Der Arzt als Patient: François Cluzet in „Der Landarzt von Chaussy“.
Foto: Presse

„Ich bin Schauspieler, um zu leben“

25. August 2016

François Cluzet über „Der Landarzt von Chaussy“ und seine Leinwandpartner – Roter Teppich 09/16

Schon als Teenager begann der 1955 in Paris geborene François Cluzet mit seiner Schauspielausbildung. Mit 25 Jahren stand er erstmals für Claude Chabrol vor der Kamera, mit dem er insgesamt fünf Filme drehte, u.a. „Die Fantome des Hutmachers“ und „Die Hölle“. Große Erfolge verbuchte Cluzet auch mit Filmen wie „Ein mörderischer Sommer“, „Der Preis der Freiheit“ oder „Kein Sterbenswort“. Mit „Ziemlich beste Freunde“ landete er den bis dato größten französischen Kassenerfolg. Nun ist er in der Titelrolle in „Der Landarzt von Chaussy“ zu sehen, der ab dem 8. September deutschlandweit startet.

trailer: Monsieur Cluzet, Sie wirken sehr überzeugend im Film, kannten Sie selbst einen Arzt wie Dr. Werner?

François Cluzet: Ich bin Schauspieler um zu leben, nicht um zu spielen. Zu Beginn meiner Karriere musste ich zwischen jedem neuen Film drei bis vier Monate warten, bis ein neues Angebot kam. In der Zeit zwischendurch habe ich mich immer unnütz gefühlt. Dann kamen Gedanken auf, warum ich eigentlich nicht beispielsweise Medizin studiert habe. Als mir nun Thomas Lilti die Rolle dieses Arztes in „Der Landarzt von Chaussy“ angeboten hat, war ich sehr glücklich, endlich Arzt sein zu können. Zwei Monate lang durfte ich also Arzt sein, nach meinen eigenen Vorstellungen. Das ist ja das Besondere am Schauspielerberuf: Man lebt in verschiedenen Rollen. Früher wollte ich gerne Architekt sein, dann gerne Arzt – als Schauspieler kann ich das alles sein! Ich war schon Schriftsteller, Pilot, jetzt Arzt – man kann einfach in viele verschiedene Rollen schlüpfen, man hat viele Leben, wenngleich auch immer nur für zwei Monate. Wenn ich eine solche Rolle spiele, dann werde ich zu dieser Figur.

Was konnten Sie für die Rolle von Thomas Lilti lernen, der selbst Arzt war, bevor er Regisseur wurde?

Von Lilti habe ich die Aussprache und die Tonalität eines Arztes übernommen, und seine Fähigkeit, anderen zuhören zu können. Wir haben zusammen sehr viel über das Drehbuch gesprochen. Ich habe vierzig Jahre Schauspielerfahrung, und wir haben die Szenen zusammen durchgelesen und uns noch einmal die Dialoge angeschaut. Dabei habe ich den Vorschlag gemacht, dass wir die Interpunktion komplett herausnehmen. Lilti war darüber zunächst sehr überrascht. Diese Arbeitsweise stammt von Theaterregisseur Peter Brook. Dadurch sind viel mehr verschiedene Möglichkeiten der Intonation eines Satzes möglich, denn der Schauspieler wird auf diese Weise nicht so stark beeinflusst, wie er etwas ausspricht. Dadurch entstehen sehr viel mehr Variationsmöglichkeiten für die Schauspieler.

Man könnte vermuten, dass viel von François Cluzet in der Figur des Dr. Werner steckt, insbesondere eine gewisse Verschlossenheit des Charakters...

Meiner Meinung nach ist ein Schauspieler wie ein weißes Blatt. Ich bin die Summe aller meiner Rollen, aber auch aller meiner persönlichen Erfahrungen. Meine Melancholie, meine Lebensfreude, alle meine unterschiedlichsten Emotionen machen mein Selbst aus. Ich drucke sozusagen jede neue Geschichte auf dieses weiße Blatt. Meine Arbeit liegt in der Verkörperung einer Figur, und dazu brauche ich einen Partner. Ich brauche den Blick und den Austausch mit meinem Gegenüber. Ich würde nicht behaupten, dass ich so verschlossen bin wie Dr. Werner, und ich bin natürlich nicht todkrank. Ich war schon mal krank, aber nicht so schwer. Aber ich habe es schon bei Freunden miterlebt, die schwer krank waren. Ich existiere eigentlich nur, wenn ich eine Rolle verkörpere. Da trifft ein Stückweit das Sprichwort „Kleider machen Leute“ zu, aber ich versuche nie, etwas zu liefern, was ich überhaupt nicht bin. Ich mag beispielsweise keine Performance-Künstler. Wir alle haben ganz verschiedene Facetten, mal melancholisch, mal schweigsam. Ich habe in meinem Bauch ein großes Repertoire an gespeicherten Gefühlen und Zuständen, auf die ich bei Bedarf zurückgreifen kann.

Auf welche Gefühle konnten Sie bei dieser Rolle zurückgreifen?

Beim „Landarzt von Chaussy“ wusste ich, dass ich keinen Humor brauche, keine Fantasie. Aber ich wusste, dass ich einen gewissen Anspruch an mich selbst brauche, der im Sinn fürs genaue Zuhören liegt. Und ich musste beispielsweise darauf achten, wie laut ich spreche, wenn ich mich im Film mit Patienten unterhalte. Wenn ich zu laut spreche, wird sich der Patient nicht trauen, zu antworten; wenn ich zu gebildet spreche, befürchtet der Patient wahrscheinlich, dass er sich nicht so gut ausdrücken kann wie der Arzt. Insofern wird man mit seinem Leinwandpartner ins kalte Wasser geworfen und Vieles entsteht dann erst durch den Austausch des Blickes mit seinem jeweiligen Gegenüber. Am Theater oder beim Film hat man eine Art Partitur zur Verfügung, die man befolgen sollte. Bei dieser Rolle wusste ich, dass sie nicht verschwenderisch, sondern eher altruistisch ist. Meine Liebe zu anderen Menschen und deren Problemen musste ich für diese Rolle noch vergrößern und weiterentwickeln. Dr. Werner ist ein uneigennütziger und wesentlich besserer Mensch als ich, deswegen musste ich diese Charaktereigenschaften für die Figur erst für mich erarbeiten.

Kannten Sie Marianne Denicourt schon vorher und wie haben Sie sich mit ihr gemeinsam auf die Rolle vorbereitet?

Nein, ich kannte sie vorher noch nicht. Aber sie kommt, genau wie ich, vom Theater, und wir haben uns sehr schnell verständigt. Wir waren beide der Ansicht, dass jeder vom anderen profitiert, wenn man selbst besser spielt. Im kommerziellen Kino gibt es die Tendenz, dass aus jeder Rolle eine Heldenrolle gemacht wird, jeder wird zu einer Art James Bond. Aber mit Marianne habe ich mich verständigt, dass ich für sie und sie für mich spielt, dass wir uns also gegenseitig ergänzen. Für mich ist es völlig uninteressant, alleine zu spielen, damit erreicht man das Publikum nicht. Wenn man mit seinem Gegenüber auf gleicher Wellenlänge liegt, dann steigert die Qualität dieses Austauschs auch den Wert des Films. Ich lehne Filmangebote deswegen auch ab, wenn ein Filmpartner involviert ist, den ich nicht so mag. Wenn mein Partner ein noch sehr junger Schauspieler ist, dann schaue ich mir vorher andere Filme mit ihm an, um zu erkennen, ob er wirklich diese Wertschätzung für seine Filmpartner hat.

Sie legen also großen Wert auf die richtige Chemie vor der Kamera?

Meiner Meinung nach ist Kino ein Teamsport. Wenn man alleine künstlerisch tätig sein möchte, dann sollte man besser Maler oder Bildhauer werden. Schauspieler ist man immer nur dank seines Spielpartners. Es gibt keine großen Schauspieler, es gibt nur große Rollen. Schauspieler zu sein kommt aus einem Bauchgefühl heraus, das kann man nicht fälschen. Aufgesetztes ist so unecht wie Schminke. Emotionalität funktioniert nur richtig, wenn sie aus einem selbst kommt. Man muss als Schauspieler sehr ehrlich und sehr spontan sein, und das funktioniert nicht ohne einen Spielpartner.

In Frankreich sind Sie schon seit vielen Jahren populär, in Deutschland hat sich das nach „Ziemlich beste Freunde“ noch einmal stark gesteigert. Haben Sie nach diesem Film auch persönlich eine Änderung in Ihrer öffentlichen Wahrnehmung festgestellt?

Ich war zunächst sehr überrascht, dass der Film zu solch einem großen Erfolg wurde. Natürlich hat er ein sehr gutes Drehbuch, das auf einer wahren Geschichte basiert. Auch hier war es extrem wichtig, sich hinter dem Partner zurückzustellen und wahre Gefühle zu vermitteln. Es ist mein Ziel als Schauspieler, mich durch die Rollen, die ich auswähle, auch selbst menschlich zu bereichern, was bei „Ziemlich beste Freunde“ der Fall war. Es ist einfach ein guter Film, der eine schöne Geschichte erzählt. Trotzdem hatte ihn das Fernsehen als Koproduktionspartner zunächst abgelehnt, weil es im Drehbuch um einen Schwarzen und einen Behinderten ging, und man sich bei diesem Thema keinen Erfolg versprach. Aber bei den Dreharbeiten stimmte auch wieder die Chemie mit meinem Partner, denn Omar Sy ist ein wunderbarer Mensch, mit dem ich gut zurechtkam.

Und für Omar Sy war diese Rolle das Sprungbrett zu seiner internationalen Karriere...

Die Frage ist immer, ob man vor der Kamera selbst glänzen oder dem Leinwandpartner die Bälle zuspielen will. In „Ziemlich beste Freunde“ waren wir der August und der weiße Clown. Der August, der immer alle zum Lachen bringt und Unsinn macht, und der weiße Clown, der an die Vernunft appelliert. In meiner Rolle im Rollstuhl konnte ich nicht allzu viel machen, deswegen habe ich versucht, Omar zu unterstützen, damit er in seiner Rolle glänzen kann. Viele Schauspieler möchten immer selbst im Vordergrund stehen, aber dieses Geben an den Partner ist meiner Meinung nach noch viel wichtiger und bereichernder.

Interview: Frank Brenner

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